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Religion, Glaube und Unglaube

Mevlanas Ansichten über Religion, Glaube und Unglaube
(von Şefik Can Efendi)

Über die ganze Welt sind Moscheen, Kirchen, Synagogen und Tempel gegen den Himmel hin sichtbar. Es ist eine Tatsache, dass schon in frühester Zeit Menschen verschiedener Hautfarbe und Nationen in unzähligen Häusern gebetet haben, meistens in Form der Anbetung von Idolen, die sie selbst errichtet hatten. Es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, dass Menschen ein Bedürfnis für irgend eine Form der Anbetung haben. Ein Mensch, der nicht gläubig ist, wird sicherlich eine Leere in sich verspüren. Nachdem Tevfik Fikret seinen religiösen Glauben verloren hatte, spürte er das klare Bedürfnis zu glauben und beklagte sich:

„Alles ist leer, die Erde ist leer, der Himmel ist leer
Herz und Gewissen sind leer,
Ich möchte dabei bleiben,
aber vor mir liegt Nichts.“

Und der verstorbene Mehmed Akif sagte: „Ein glaubensloses, rostiges Herz ist eine Last auf meiner Brust.“

Wie verstand Rumi die „religiösen Gefühle“?

Weil Rumi die Menschen als Geschöpfe sah, die das göttliche Vertrauen in sich tragen, liebte er alle menschlichen Wesen, unabhängig von ihrem Glauben oder ihrer Überzeugung und respektierte daher alle Religionen. Aus diesem Grunde vergossen hinter dem Sarg dieses grossen Heiligen nicht nur Muslime Tränen, sondern auch Christen und Juden.

Eflaki, ein muslimischer Priester in Konya, sagte über die Christen: „Ehre dem Herrn, dass Er uns nicht unter den Christen erschuf!“ Als die Christen diese Aussage Rumi übermittelten, sagte Rumi über diesen Prediger: „Er ist fehlgeleitet und führt andere fehl. Er wägt sich selbst gegen die Christen ab, und ist überheblich, weil er sich vorstellt, ein Gramm schwerer als sie zu sein. Wenn er käme und sich mit der Waage der Propheten und der Heiligen wiegen liesse, würde er seinen echten Wert erkennen.“

Die Tatsache, dass Rumi alle Religionen respektierte, heisst nicht, dass er alle Religionen als Einheit und ebenbürtig verstand. Die Bedeutung liegt vielmehr darin, nicht alle Glaubensrichtungen und Religionen, sondern ihr Wesen als eine Einheit zu verstehen.

Tatsächlich entspricht alles in dieser Welt, sei es spirituell oder physisch, religiös oder einer bestimmten Ausrichtung gemäss, einer Manifestation von Allahs Schönsten Namen und Attributen. Das heisst, Allah manifestiert Sich sowohl in dem Namen „Hadi“ (Er, der auf den rechten Pfad führt) als auch in dem Namen „Mudil“ (Er, der in die Irre führt), entsprechend dem Koranvers „Siehe, Gläubige und Ungläubige handeln gemäss dem Weg, der für sie geeignet ist.“ (17/84)

Jeder handelt gemäss seiner Natur und gemäss seiner Schöpfungsart. Jeder folgt dem Weg, der seinem Charakter entspricht. Wir müssen bei diesem Thema sehr vorsichtig sein. Das Verfolgen des Weges, der dem jeweiligen Charakter entspricht, bedeutet nicht notwendigerweise, dass es der richtige Weg ist. Mit anderen Worten, eine Religion oder ein Glaubenssystem wird nicht dadurch richtig, weil es dem Charakter oder dem Gefühl einer Person oder einer Gesellschaft entspricht. Glücklich ist der Mensch, dessen Charakter der Wahrheit entspricht.

Tatsächlich beruhen alle Ereignisse, die sich zu widersprechen scheinen, auf einer Weisheit, die unser Geist nicht versteht, weil sie alle die Manifestationen der göttlichen Namen und Attributen wiedergeben. Alles ist unter der Kontrolle Gottes, alles kommt von Ihm. Die Anhänger aller Religionen und Glaubensrichtungen führen seine Befehle aus und folgen dem Schicksalsweg, den Er vorzeichnete.

Wir haben aus dieser Sicht nicht das Recht, irgend jemanden zu kritisieren. Jeder Gläubige einer Glaubensrichtung hat seinen Glauben als richtig angesehen und ist seinen Weg gegangen, obwohl dieser aus der Sicht anderer Glaubensrichtungen als falsch gilt. Rumi erklärt dies in den folgenden Versen aus dem Mesnevi:

„In dieser Welt gibt es versteckte Leitern, die Schritt für Schritt in den Himmel führen. Jede Gruppe hat eine andere Leiter. Jede Vorgehensweise führt zu einem ihr eigenen Himmel und jede Gruppe ist sich der Situation der anderen Gruppen nicht bewusst. Die Himmel sind ein weites Land. Sie sind so weit, als dass sie kein Anfang und kein Ende haben.“
(Mesnevi, B. V, Nr. 2556)

Aus diesen Versen lässt sich folgern: Damit Gott in all den verschiedenen Aspekten Seiner Göttlichen Eigenschaften verehrt wird, hat Er die Ansichten der Menschen in den verschiedenen Religionen für sie als wahr erscheinen lassen. Auf diese Art glaubt jeder Mensch, unabhängig von der befolgten Religion, dass nur seine Religion wahr ist, und er sieht die Menschen anderer Religionen als fehlgeleitet. Rumi aber vertritt diese Sichtweise nicht, denn er glaubt, dass jeder Gläubige, unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit, auf dem Weg zu Gott ist, d.h. jenem Weg, den Gott ihm zugeordnet hat und den dieser für sich als richtig empfindet. Daher schaut er niemals auf einen Menschen herunter, der sich ausserhalb des Islams befindet und beschuldigt ihn niemals, ein Ungläubiger zu sein.

Weil die Vorherbestimmung durch Gott in der ewigen Vergangenheit und Sein Wille in der Art der Anbetung und des Glaubens der Menschen manifestiert sind, sind jene Menschen, die sich ausserhalb des „Weges der Führung“ befinden, solche, die in Gottes Ordnung und Vorherbestimmung auf dem „Weg der Irreführung“ gehen. Daher beginnt unser Koran nicht mit der Aussage „Herr der Muslime“ sondern mit „Herr der Welten“ (Herr allen Seins, aller Wesen und aller Dinge, die nicht Allah sind).

Wir müssen uns ganz klar darüber sein, dass Allah allein Führung und Irreführung erschaffen hat. Alles hängt von Seinem Willen und seiner Vorherbestimmung in der Vorewigkeit ab. Wenn Allah es will, so kann er einen fehlgeleiteten Menschen auf den rechten Weg führen. Er kann aber auch jemanden, der auf dem rechten Weg ging, auf den Weg der Irreleitung führen. Dies ist Gottes Wille, den kein Geist je erfassen kann. Tatsache ist demnach, dass – obwohl das Finden des wahren Weges wie auch das „Vom-wahren Weg-weggeführt-Werden“ das Resultat der Vorherbestimmung in der ewigen Vergangenheit sind – mit Allahs Einwilligung auch unsere Bemühungen und Anstrengungen eine Rolle spielen. Aus diesem Grund sagten die Gnostiker: „Die Vorherbestimmung der Ewigkeit weiss Anstrengungen zu schätzen“. Wenn wir aufmerksam sind, können wir sehen und fühlen, dass Allah alle diejenigen in demjenigen Gebiet zum Erfolg führt, in welchem er sich bemüht. Wenn die Seele eines Menschen vom Übel infiziert ist, so können ungeeignete Haltungen und Handlungen von ihr ausgehen. Wenn das Wesen eines Menschen gut ist, so können gute Taten und gefällige Handlungen von ihm ausgehen. Dies bedeutet, dass die Güte oder die Schlechtigkeit der Taten von der Güte oder der Schlechtigkeit des Wesenskerns des Menschen abhängen. Es muss daher betont werden, dass diese Sicht nicht missverstanden werden darf. Rumi hat nicht alle Religionen als gleich angesehen, aber er hat das Wesen aller Religionen als Eins verstanden. Er war klar davon überzeugt, dass – weil unser Meister Mohammed (Segen sei mit ihm) der letzte der Propheten war – der Islam unter allen Religionen einen bevorzugten Platz hat.

„Wisse, dass Glaube und Unglaube wie das Weisse und das Gelbe im Ei sind. Eine Membran trennt die beiden. Daher mischen sich die beiden nicht. Mit Allahs Gnade und Güte verschwinden sowohl Glaube wie Unglaube, wenn die Mutterhenne das Ei unter ihre Fittiche nimmt und das Kücken der Einheit die Eischale durchbricht und herauskommt.“  (Firuzanfer, B lV, Nr. 1940)