Mevlanas Ansichten über die Rettung der Menschheit
(von Şefik Can Efendi)
Wir befinden uns alle in Sehnsucht und auf der Suche nach einem fehlerlosen Menschen. Es ist schwierig heutzutage, einen fehlerlosen Menschen zu finden. Wenn wir bei Menschen, die wir ehren, lieben, respektieren, und von denen wir glauben, dass sie fehlerlos sind, Fehler feststellen, die mit ihrer menschlichen Natur zusammenhängen, brechen wir innerlich zusammen und sagen: „Es gibt keine fehlerlosen Menschen.“ So akzeptieren wir die Menschen mit ihren guten und schlechten Seiten und sind gezwungen, sie so zu lieben wie sie sind. Trotz dieser Ansicht sollten wir unsere Hoffnung nicht aufgeben. Auf dieser Welt, in der die Menschen die inneren Werte verlieren und dem Materiellen den höheren Stellenwert einräumen, gibt es dennoch fehlerlose, vollkommene Menschen – Insan-i Kamil – auch wenn es nur einer unter Tausenden ist. Diese wenigen sind die Sonnen der geistigen und menschlichen Welt.
Stellen wir uns vor, was geschehen würde, wenn wir für einen Augenblick auf dieser materiellen Welt die Sonne nicht hätten. Es würde kein Leben mehr geben und alles zugrunde gehen. Und was ist mit der Sonne der geistigen Welt? Wir leben nur dank diesen vollkommenen Menschen – diesen Sonnen der geistigen Welt – dank ihnen sind wir uns unserer menschlichen Würde bewusst. Wenn diese Sonnen sich von dieser Welt zurückziehen würden, dann würde die geistige Welt aufhören zu existieren und die Menschen würden ihre menschliche Würde verlieren. Hass, Gewalt, Lügen, Heuchelei, Eifersucht, Neid, Lüsternheit und viele andere üble Zustände würden allein diese Welt regieren, und die Menschen glichen wilden Tiere in Menschengestalt.
Wie wir wissen, hatte der Philosoph Diogenes von Sinop am helllichten Tag eine Laterne in die Hand genommen, um auf der Strasse Menschen zu suchen. Gab es denn keine Menschen in seiner Umgebung? Es gab viele Menschen, aber der Philosoph sah in ihnen nur Wölfe, Füchse, Hasen und Schweine in menschlicher Gestalt. Seiner Meinung nach waren die Strassen voller Tiere in menschlicher Form.
Ein Denker hat die Menschen mit Gebäuden verglichen. Die vorderen Seiten der Gebäude, welche auf die Strassen gerichtet sind, sind schön, sauber und gepflegt. Die hinteren Seiten der Gebäude sind ungepflegt und schmutzig. Die Menschen, die wir als gute Menschen betrachten, sind diejenigen, von denen wir die Vorderseite sehen. Doch die Menschen, deren gute Seiten wir kennen, können auch sehr schlechte Seiten haben. Oder umgekehrt, Menschen, von denen wir glauben, dass sie schlechte Menschen sind, können auch sehr gute Seiten haben. Demzufolge sind Menschen sowohl gut wie schlecht. Mevlana nun betrachtet die Menschen nicht nur von der Vorderseite, sondern von allen Seiten. Er sucht den Rettungsweg für die Menschen. Er hilft den Menschen, ihre Fehler loszuwerden und wahre Menschen zu sein. Er unterstützt den Mensch in seinem Bestreben, das Tierische, das in seiner Natur liegt, loszulassen.
„Denn am Tage der Auferstehung werden die Neidischen zweifellos in der Gestalt von Wölfen vorgeführt werden. Am Tage der Abrechnung wird der gierige, niederträchtige Esser verbotener Nahrung in der Gestalt eines Schweines auferstehen. Die Körper der Ehebrecher werden übel riechen; Weintrinker werden stinkende Münder haben. Der verborgene Gestank, den nur die Herzen wahrnehmen, wird bei der Auferstehung deutlich spürbar werden. Das Innere des Menschen ist ein Dschungel; sei auf der Hut vor diesem Wesen, wenn du jenen Atem hast. In unserem Wesen gibt es Tausende von Wölfen und Schweinen, gute und schlechte, schöne und hässliche. Die vorherrschende Veranlagung entscheidet: wenn mehr Gold als Kupfer da ist, ist es Gold. Du wirst in der gleichen Gestalt des Charakters auferstehen, der in deinem Wesen vorherrscht. Zu einer Zeit dringt ein Wolf in den Menschen ein; zu einer anderen Zeit eine mondgleiche Schönheit mit Josephs Gesicht. Rechtschaffenheit und Bosheit wandern über einen verborgenen Weg von Herz zu Herz; nein, in Wirklichkeit wandern Weisheit und Wissen und Vorzüglichkeit vom Menschen in den Ochsen und den Esel. Der holprige Schritt des Pferdes wird geschmeidig und zahm, der Bär tanzt, die Ziege grüsst. Der Hund ist vom Menschen erzogen worden, so dass er ein Schafhirt, Jäger oder Wächter geworden ist. Die Schäfer in der Höhle haben ihrem Hund eine solche Güte weitergegeben, dass er zum Gottessucher wurde. Jeden Augenblick erscheinen andere Gattungen in der Brust, bald ein Teufel, bald ein Engel, bald wilde Tiere. Von dem wundervollen Dschungel, den jeder Löwe kennt, gibt es einen geheimen Weg in die Fallen der Herzen. Oh du, der du geringer als ein Hund bist, stiehl die Perle der Seele aus dem Inneren – aus dem Inneren der Gotteskenner. Wenn du stiehlst, dann diese liebliche Perle; wenn du eine Last trägst, dann auf jeden Fall eine edle!“
(Mesnevi, B II, Nr. 1416)