Von Peter Hüseyin Cunz, August 2000
Basis zu einem Referat im Dezember 2000 in Ankara)
At the still point of the turning world. (Im Ruhepol der sich drehenden Welt)
Neither flesh nor fleshless; (Weder Fleisch noch fleischlos)
Neither from nor towards; (Weder von noch für)
At the still point, there the dance is, (Im Ruhepol, dort ist der Tanz)
But neither arrest nor movement. (Aber weder im Stillstand noch in Bewegung)
(T.S. Eliot)
Alles was erschaffen ist, befindet sich in Bewegung. Wo Bewegung ist, existiert ein Referenzpunkt – ein Pol, um den sich alles dreht. Der Pol kennt weder Anziehung noch Abstossung, weder Wunsch noch Abneigung, weder Erkennenden noch Erkannten – er ist überall und doch nirgends zu sehen, er ist reine Erkenntnis, die in sich selbst ruht. Wer in der Nähe des Pols ist, kümmert sich nicht mehr um die Bewegungen der Schöpfung. Doch Allah ist noch grösser als Seine Schöpfung.
Gott war es nicht genug, in sich selbst zu ruhen, und so blickte Er für einen kurzen Augenblick auf Sich Selbst – und hatte damit bereits alle Evolution in Gang gesetzt und Erkenntnis ermöglicht. Gott wollte die Bewegung, Er wollte die ständige Veränderung aller Dinge und Erneuerung der Gegensätze, denn Seine Geschöpfe sollen sich im Dilemma der Gegensätzlichkeiten nach Ihm sehnen und Ihn preisen. Hz. Mevlana (radhiyallâhu ‚anhu) spricht immer wieder vom Kontrast zwischen Bewegung und reinem Sein, und das Ritual des Semâ (Mukabele) mit dem Drehen der Derwische um ihre eigene Achse zelebriert dies ganz eindrücklich. Alles sehnt sich zurück an den Ort, wo wir alle herkommen. Dort in der absoluten Ruhe, dem universellen Frieden, fühlen wir uns Gott am nächsten. In der Bewegung liegt der Sinn der Schöpfung verborgen.
So lasst uns anerkennen, dass alles in dieser Welt sich bewegt und Änderungen unterworfen ist! Und es sind nicht nur die Umwelt, die Politik und das soziale Zusammenleben, die im Okzident wie im Orient sich ändern. Auch die Religion ist mit den Änderungen der Zeit konfrontiert. Wenn wir akzeptieren, dass Hz. Mohammed (sallallâhu ‚alaihi wa sallam) der letzte Prophet war und der Islam für alle Menschen und für immer offenbart wurde, dann dürfen wir nicht gleichzeitig fordern, dass kulturell bedingte Formen des religiösen Ausdrucks sich nicht mehr ändern sollen. Das wäre ein Widerspruch, der ganz besonders vom aufgeklärten Menschen nicht akzeptiert würde.
Ob zu recht oder unrecht: der Mensch im Westen empfindet sehr oft den islamischen Kodex als ein im Ordnungsdenken des 10. Jahrhunderts erstarrtes Dogma, das der modernen Zeit nicht mehr Rechnung trägt. Zumindest sieht er im Islam ein Festhalten an Denkweisen und Lebensgewohnheiten aus dem Orient. Eine solche Sicht schränkt den Islam in seiner Universalität stark ein, und es ist darum verständlich, dass der Mensch im Okzident oftmals Mühe bekundet, sein Herz vollständig dem Islam zu schenken. Insbesondere versteht die Frau im Westen nicht, warum sie in einer Gesellschaft, die sich islamisch nennt, nicht die gleichen Rechte haben soll wie der Mann, hatte sich doch Hz. Mohammed (sallallâhu ‚alaihi wa sallam) gerade für die Frauenrechte besonders eingesetzt.
Jene Menschen, die mit der christlichen Kirche Mühe bekunden – und davon gibt es im Westen viele – verneinen mehrheitlich jeglichen Besitzanspruch in philosophischen, ethischen, moralischen und religiösen Fragen. Der Westen ist geprägt von der Entwicklung nach der französischen Revolution im 18. Jahrhundert, die das Verständnis der Demokratie wiederbelebte und der Säkularisierung den Weg bereitete. Eigenverantwortliches Handeln rückte in den Vordergrund: Die Weiterentwicklung der Ethik und Philosophie geschah ohne Bindung an traditionelle religiöse Moralvorstellungen und Verhaltensweisen. Aber auch die familiären Abhängigkeiten begannen sich zu verlieren, und die Frau erhielt langsam den notwendigen Freiraum, um sich ihre Rechte zu kümmern. Und so sind die Freiheit des Denkens und des Ausdrucks und damit ganz allgemein die individuelle Freiheit des Menschen, die Verantwortung des Individuums und die Wahlfreiheit des Menschen in seinem religiösen Ausdruck Aspekte, die immer zu berücksichtigen sind, wenn wir darüber diskutieren wollen, wie die Ausbreitung und Gestaltung einer islamisch geprägten Religiosität im Westen möglich sein soll.
Mit der Säkularisierung kam vielleicht nicht zufällig auch die technische Entwicklung und damit ein sich Konzentrieren auf den Fortschritt, was nebst dem segensreichen Komfort leider auch ein Austrocknen der Herzen mit sich brachte. Die Sehnsucht nach Gott ist natürlich geblieben, und in der Überzeugung, dass die einst mächtigen christlichen Kirchen ausgedient haben, begannen viele Menschen im Westen ihren Herzensdurst an den Übersetzungen der Werke grosser Sufis und fernöstlicher Mystiker zu löschen. Die Werke Hz. Mevlanas (radhiyallâhu ‚anhu) sind für sie ausgesprochen attraktiv, denn sie glauben darin abzuleiten, dass sie in ihrer Beschäftigung mit Tasawuf die ihnen so wichtige individuelle Freiheit bewahren können. Es besteht kein Zweifel darüber, dass der Islam mit seiner universellen und abschliessenden Botschaft im Westen an Bedeutung gewinnen wird, doch nicht ohne Gefahr.
Im Begehren, sich auf die Weisheit der grossen islamischen Heiligen einzulassen, und in der gleichzeitigen Voreingenommenheit gegenüber orientalischer Lebensformen, fällt der oder die Suchende in die Arme von Anbietern esoterischer Kurse und Bücher, die unter dem Begriff „Sufismus“ seltsame Cocktails mischen. Der Irrsinn geht so weit, dass in bestimmten Kreisen behauptet wird, Sufismus sei viel älter als der Islam und habe nichts mit Islam zu tun.
Die Bedeutung Hz. Mevlanas (radhiyallâhu ‚anhu) für den Islam in der heutigen Zeit ist etwa zu vergleichen mit der Bedeutung Einsteins in der Physik. Einstein hat mit seiner Relativitätstheorie nicht die Gesetze Newtons ersetzt, sondern er hat sie in einem breiteren Lichte gezeigt. Und so hat Hz. Mevlana (radhiyallâhu ‚anhu), der ein vorbildlicher Liebhaber unseres Propheten war, ohne den Kern des Islam in Frage zu stellen, den Pluralismus zugelassen und auf die Schönheit der Vielheit hingewiesen. In einer Gesellschaft, die das Patriarchat am Leben erhält, ist kein wirklicher Pluralismus möglich, und ohne Pluralismus gibt es keine Demokratie. Eine religiöse Gemeinschaft (Umma), die keine Vielfalt zulässt, verfällt in den Fundamentalismus. Hz. Mevlana (radhiyallâhu ‚anhu) hat gezeigt, dass Gottesgläubigkeit und Demokratie sich ergänzen können.
Gottesgläubigkeit verlangt die Hingabe an die letztendliche Autorität Gottes und Seine Gebote. Im Gegensatz dazu verlangt ein demokratisches Zusammenleben in der Gesellschaft das Eingehen auf Kompromisse auch gegenüber Andersgläubigen. Die Lösung dieses Gegensatzes liegt in der Anerkennung der essenziellen Gleichwertigkeit aller Menschen und in der Erkenntnis, dass wir Gottes Geheimnisse nie ergründen können. Damit erhält der respektvolle Umgang mit den Menschen und der Umwelt (Adab) eine wichtige Bedeutung. Das Üben des Respektes gehört zu den zentralen Pflichten eines Mevlevi, denn dies alleine stärkt uns auf der Gratwanderung zwischen Erfordernis und Freiwilligkeit, Herrschen und Zulassen, Unterwerfung und Eigenwilligkeit, Loslassen und Festhalten. Im ständigen Paradox zwischen den auferlegten Pflichten und dem Wissen über die Ohnmacht (Allah alleine entscheidet über unser Geschick) übt der Mevlevi das Gehen auf dem geraden Weg.
Ein Sufi wandert mit den Änderungen der Zeit und trauert nicht den alten Zeiten nach. Früher lebte das Mevlevitum durch die Existenz von Klostergemeinschaften. Heute ist die moderne Welt geprägt durch internationale Vereinbarungen und schnellste Kommunikationsmöglichkeiten, und sie wird sich noch weiter verändern. Die international organisierten Mevlevis sind in ihrer Arbeit nicht mehr auf die Türkei angewiesen. Trotzdem wäre es schön, in der Türkei ein sichtbares Zentrum zu betreiben.
Kemal Atatürk hatte der Türkei ein modernes Gesicht gegeben und es wäre falsch, den Prozess der Moderne nicht zu unterstützen. Der Erhalt von religiösem und kulturellem Gut, das den durstigen Herzen der Menschen eine Quelle sein kann, ist aber nach wie vor von grosser Bedeutung. Wir sind deshalb dem türkischen Kulturministerium für seine Bemühungen zur Erhaltung der Güter und Werke der Mevlevis zu Dank verpflichtet.
Ungeachtet der Tatsache, dass die sehr populär gewordenen Werke Hz. Mevlanas (radhiyallâhu ‚anhu) auch als Grundlage für unseriöse und übertrieben sentimentale Veröffentlichungen verwendet werden, und ungeachtet der Schwierigkeiten, dass selbsternannte Lehrer unter Berufung auf Mevlana (radhiyallâhu ‚anhu) oder die Mevlevis ihre Dienste als spirituelle Meister gegen Geld anbieten, versuchen wir, die Authentizität des Mevlevi-Ordens zu erhalten. Nebst einiger Gruppen in der Türkei sind wir in der Schweiz, in Deutschland und den Niederlanden, aber auch in USA und Mexiko so weit organisiert, dass wir uns wöchentlich zum Dhikr, Sema und Studium treffen können. Wir stehen in ständiger Verbindung zum Maqam Çelebi und zum Sertarik (Erster Postnishin) und behalten so trotz der schnell sich ändernden Gesellschaft den Bezug zur Geschichte und des rechtmässigen Erbes des Mevlevitums.
Die Welt dreht sich und bewegt sich weiter und weiter. Wenn der Semazen seine Arme ausbreitet und im Drehen mit seinem Sein näher und näher an den Ruhepol im Herzen gelangt, lösen sich für eine beschränkte und entzückende Zeit alle Unterschiede zwischen Tradition und Moderne. Nach dem Sema geht er dann mit gestärkter Gewissheit wieder an seine Arbeit, den Worten Hz. Mevlanas (radhiyallâhu ‚anhu) gedenkend: „Wenn du einen Aprikosenkern ohne die Schale in die Erde legst, dann wächst nichts; wenn du ihn aber mit der Schale setzt, wächst ein schöner Baum, der weitere Früchte bringen wird.“
Es gibt Gesetze, die für immer Gültigkeit haben werden, und es gibt Gewohnheiten, die nicht zum Gesetz erhoben werden dürfen. Möge Gott uns die Weisheit geben, zwischen beidem zu unterscheiden, und möge Gott uns die Kraft geben, dafür einzustehen!