Nur Artiran, Istanbul, 25.01.2006
Mesnevi Band I, Zeile 779: „sieben Pforten der Hölle“
Mesnevi Band VI, Zeile 4657: „die Hölle ist ein Drache mit sieben Köpfen“
Die angesprochene Formulierung “sieben Pforten der Hölle” enthält verschiedene Symbole. Die Sufis beschreiben unsere Nafs in sieben Stufen, d.h. die Wünsche der Nafs werden in sieben Gruppen unterteilt. Diese sieben Teile der Nafs werden im Mesnevi als sieben Pforten der Hölle oder als siebenköpfiger Drache symbolisiert. Das Thema ist sehr tiefgreifend, weshalb es schwierig ist, es per Email jenen zu erklären, denen dieses Gebiet fremd ist. Wir können es jedoch kurz und allgemeinverständlich etwa folgendermassen erläutern:
Im Mesnevi Band VI, Zeile 4654-57 (Sefik Can, Seite 608) wird folgendes gesagt:
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Wenn man dich für einen Augenblick vom Kummer nach Brot befreit, dich sättigt, dann wirst du hinter den Frauen herlaufen und dich ihnen zuneigen!
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So wird das Meer deiner Begierde erregt und fängt an zu wogen. Dann musst du eine Stadt voller Brot, vielerlei Nahrung und die Frauen beherrschen!
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Zuerst warst du eine Schlange, jetzt bist du wirklich ein Drache geworden. Du hattest nur einen Kopf; jetzt hast du sieben Köpfe!
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Der siebenköpfige Drache ist die Hölle; deine Gier ist der Köder! Und die Hölle, die wie ein siebenköpfiger Drache ist, ist eine Falle, die dich vom Menschwerden abhält!
Wenn sich der Mensch um seinen Lebensunterhalt sorgt, kämpft er darum, seinen Bauch zu füllen, um in dieser Welt bestehen zu können. Er wird keine Möglichkeit haben, über etwas anderes nachzudenken und weiteren Wünschen seiner Nafs nachzugeben. Am Anfang machte er sich Sorgen um seinen Lebensunterhalt, sobald diese behoben sind, fängt er an hinter Frauen, hinter seiner Nafs her zu rennen. Deine Nafs, deren Wünsche kein Ende nehmen, verlangt dann von dir immer grössere Dinge. Früher fand sie nicht einmal ein Stück Brot zu essen, und heute möchte sie der Herrscher der Stadt sein. So werden die Wünsche der Nafs immer grösser, und die Nafs, die wie eine Schlange war, wird zu einem unbesiegbaren Drachen.
Hunger und Nahrungsmangel, weltliche Armut sowie die Sorgen um den Lebensunterhalt helfen auf unbemerkte Weise, das Ego des Menschen zu schwächen. Unter diesen Umständen wird unser Egotismus, der die Hölle symbolisiert, unser Ego, das den verschiedenen vergänglichen Wünschen nachgibt, nicht ernährt und vergrössert, d.h. die kleine Schlange wächst nicht zu einem Drachen heran. Denn eigentlich ist die Nafs eine kleine Schlange; wir aber verwandeln sie in einen Drachen, den wir nicht mehr in der Lage sind zu besiegen. Doch manchmal sind wir auch fähig, mithilfe unserer geistigen Schönheit das Gift dieser Schlange zu entfernen und sie, wie die Hindus, nach unseren Wünschen tanzen zu lassen. Dann wird die Nafs sich uns unterordnen. Wenn sie sich jedoch entwickelt und zu einem Drachen wird, werden wir aus Angst dessen Befehlen gehorchen. Kurz gesagt: Beides ist in unserer Hand; wir können unsere Nafs mit ihren Wünschen ernähren und sie zu einem Drachen machen, oder wir ernähren sie nicht und schwächen sie so, dass sie uns nicht mehr schaden kann.
Hz. Mevlana sagt, dass bewusste Ernährung der kürzeste Weg sei, die Nafs zu schwächen und zu verhindern, dass sie zu einem Drachen werde. Wir sollten also sehr darauf achten, was wir als Nahrung zu uns nehmen und vor allem das Fasten als eine Pflicht betrachten. Wenn wir alle Verse Hz. Mevlanas über den Nutzen des massvollen Essens und der ausgeglichenen Ernährung herausschreiben würden, gäbe das ein ganzes Buch für sich. Als Beispiel können wir die folgenden Doppelverse 4726-28 (Sefik Can, Mesnevi Band VI, Seite 665) anführen:
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Ein leerer Bauch prahlt nie mit Göttlichkeit, denn er hat kein Brennholz, um sein Feuer zu füttern. D.h. er wird nicht durch die Wünsche der Nafs und mit verschiedenen Nahrungsmitteln ernährt.
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Der leere Bauch ist ein Gefängnis für den Teufel. Denn die Sorge um das Brot hält ihn vom Ränkeschmieden und Betrügen ab.
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Während der Bauch, wenn er leer ist, ein Gefängnis für den Teufel ist, wird er, wenn er mit Nahrung gefüllt ist, zu einem Marktplatz voller Teufel, wo die teuflischen Händler schreiend Lärm machen!
Und im V. Band des Mesnevi finden sich folgende Doppelverse 2479-80 (Sefik Can, Seite 207):
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Du bist halb Moschus und halb ekelhafter Mist. Hüte dich! Vermehre nicht den Mist, vermehre den chinesischen Moschus!1
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Verlasse den Bauch und gehe der Seele entgegen, damit du ohne Schleier von Gott einen offenen Gruss empfängst.
Unser geliebter Sefik Can Efendi erwähnt in seinem Mesnevi-Kommentar in einer Fussnote (Band III, S. 254) ein Hadith über das Fasten: Gott hat aus Seinem Licht den Verstand erschaffen; danach sagte Er zu ihm: “Komm!” Und er kam. Dann sagte Er zu ihm: „Geh!“ Und er ging. Dann fragte Er ihn: “Wer bist du, wer bin Ich?” Der Verstand antwortete: “Du bist mein Gott, ich bin Dein schwaches Geschöpf”. Gott sagte: “Oh Verstand, ich habe kein kostbareres Geschöpf als dich erschaffen”. Danach erschuf Gott aus Feuer die Nafs und sagte zu ihr: “Komm!”. Die Nafs folgte diesem Befehl nicht. Danach fragte Gott: “Wer bin Ich, wer bist du?” Die Nafs antwortete: “Ich bin ich, Du bist Du”. Danach verbrannte Er sie hundert Jahre lang im Höllenfeuer. Er fragte sie wieder: “Wer bin Ich, wer bist du?” Wie beim ersten Mal antwortete sie: “Ich bin ich, Du bist Du.” Da bestrafte Gott sie mit Hunger und fragte sie wieder: “Wer bin Ich, wer bist du?” Die Nafs antwortete: “Du bist mein Gott, ich bin Dein schwaches Geschöpf”. Obwohl die Nafs jahrelang durch verschiedene Unannehmlichkeiten geprüft worden war, hatte keine einzige Sorge und kein einziger Schmerz sie geschwächt. Sie hat weder ihre Nichtigkeit gesehen, noch hat sie die Grösse und Macht Gottes akzeptiert. Jedes Mal hat sie, “Du bist Du, ich bin ich” gesagt und sich Gott gleichgestellt. Erst, als sie durch das Fasten geschwächt wurde, ihre Machtlosigkeit einsah und Gott als den Erschaffenden mit grosser Kraft erkannte, wurde das Fasten für die Menschen zur Pflicht.
Deshalb achten geistig weit entwickelte Menschen darauf, wenig zu essen und legen grossen Wert auf das Fasten. Das wichtigste Mittel, die Nafs zu schwächen ist wenig zu essen und zu fasten. Hz. Mevlana sagt: “Das wenig Essen und das Fasten sind ein solch grosses, göttliches Geschenk, dass es nicht jedem zuteil wird. Dies ist ein geistiger Zustand, welchen nur die erhabenen Menschen erreichen können (Sefik Can, Mesnevi Band V, 2837-2846). Ebenfalls sagt Hz. Mevlana auf ganz eindeutige Weise, dass wir uns unbedingt von der materiellen Nahrung trennen müssen, um geistige Nahrung zu erlangen. Als Beispiel zu diesem Thema können die Doppelverse im Mesnevi Band I, 17-52 gelesen werden.
Natürlich bedeutet das Fasten nicht nur nichts zu essen. Nichts zu essen gibt uns lediglich die Möglichkeit, das wahre Fasten zu erlangen. Nur indem wir nichts essen, können wir nicht unsere ganze geistige Arbeit erledigen. Wenn das so wäre, hätten alle Menschen, die Diät halten, Gott erreicht. Wenig zu essen ist nur der erste Schritt. Denn wir haben ja auch noch nicht gebetet, nur weil wir die traditionelle Gebetswaschung vollzogen haben. Die Gebetswaschung ist eine Vorbereitung für das Gebet. Indem wir wenig essen, haben wir noch nicht unsere geistigen Aufgaben erfüllt. Das Fasten ist lediglich die grösste Unterstützung, um unsere geistigen Aufgaben zu erfüllen.
Die sieben Pforten der Hölle oder der siebenköpfige Drache sind die Pforten der Wünsche oder die Köpfe unserer Nafs. Im Koran, Sure Al-Hidschr (15), Vers 442 wird folgendes gesagt: „Ihr (die Hölle) sind sieben Tore, und für jedes Tor ist ein besonderer Teil.“
Ahmet Avni Konuk, der durch seine Mesnevi-Erläuterungen bekannt ist, erklärt diesen Vers (Band I, S. 274) wie folgt:
„Die Nafs gehört in ihrer Art zur Hölle, sie ist nicht zu sättigen, ihre Wünsche sind unendlich. Die sieben Pforten der Hölle vertreten die sieben Formen unserer Nafs, und dies sind die folgenden: Das Auge, das Ohr, der Mund, die Hand, der Fuss, der Bauch oder der Magen und die Geschlechtsorgane. Wenn wir diese Organe nach dem Befehl und Wunsch unserer Nafs verwenden, werden sie zu sieben Pforten der Hölle”. D.h. jedes dieser Organe wird zu einem siebenköpfigen Drachen, den wir nicht mehr unter Kontrolle haben werden.
Auch das Paradies hat Pforten. Wenn wir diese Organe gemäss dem Zweck, für den sie erschaffen wurden, verwenden, werden sie für uns zu Pforten des Paradieses. Das Auge wurde uns z.B. gegeben, um die Schönheiten Gottes zu betrachten und nicht, um die Fehler und Unschönheiten anderer zu sehen. Natürlich ist es falsch, die Augen dafür zu missbrauchen, Dinge zu lesen oder zu betrachten, die unsere Nafs ungebärdig machen und uns verleiten Schlechtes zu tun; statt dessen sollten wir unsere Augen dazu verwenden, von geistiger Schönheiten lesen und das zu betrachten, was unsere Seele nährt. Das Ohr ist erschaffen, um schöne Worte zu hören, und es wäre falsch, wenn man es für etwas Gegensätzliches verwendet. Hz. Mevlana sagt, dass das Tier durch den Mund und der Mensch durch das Ohr ernährt werde. Das bedeutet, die Nahrung, die wir durch unseren Mund einnehmen, ernährt unsere Nafs. Doch die schönen Worte, die wir durch das Ohr wahrnehmen, nähren unseren Geist. Deshalb beginnt das Mesnevi mit dem Wort “höre”. Die erste Voraussetzung, um ein Mensch zu sein, ist das Zuhören. Wenn wir das Ohr, das uns geschenkt wurde, um ein Mensch zu sein, um die göttlichen Worte zu hören, für das Gegenteil dessen einsetzen, wofür es uns gegeben wurde, dann wird es zu einer Pforte zur Hölle, über die wir hier sprechen. Wenn wir es aber gemäss dem Zweck einsetzen, für den es erschaffen wurde, dann wird es zu einer Pforte zum Paradies. Für die erwähnten anderen Organe gilt das gleiche.
Dies sollte man nicht vergessen; das eigentliche Ziel ist, mit geistigen Augen sehen und mit geistigen Ohren hören zu können. Hz. Mevlana sagt “höre”, doch wir können nur die Form des Gesagten hören. Das bedeutet, nur das Herz, welches sich von Schmutz gereinigt hat, hört, was Hz. Mevlana sagt. Schauen Sie, wie Hz. Mevlana mit den unten aufgeführten Doppelversen 100 und 101 uns aufruft (Sefik Can, Mesnevi Band III):
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Du kannst das Klatschen der Blätter nicht sehen. Ihre fröhlichen Stimmen, ihre Lobpreisung und ihre Dhikr nicht hören; um dies hören zu können, braucht es ein geistiges Ohr, ein Herzensohr, nicht das Ohr des Körpers.
- Sei klug und verschliesse deine Ohren des Kopfes vor Lügen und unnützen Worten; verschliesse sie, damit du die strahlende Stadt der Seele siehst!
Die Doppelverse 566 und 567 drücken im Mesnevi Band I (Sefik Can, S. 40) folgendes aus:
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Verschliesse das Ohr der Sinne mit Watte. Das heisst, mache das Ohr des Körpers, welches die Stimme der niederen Triebe hört, taub, damit das Herzensohr sich öffnet und du die Stimme Gottes, die Stimme der Wahrheit hörst. Und nimm den Verband der Liebe zu dieser Welt von den Augen weg…
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Im Grunde genommen ist unser Ohr des Körpers die Watte im Herzensohr. Unser Herzensohr wird so lange verschlossen bleiben, bis wir unser Ohr des Körpers taub machen.
Hz. Mevlana sagt an einem Ort im Divan-i Kebir: “Die Rosen schreien: ‘Wer eine Leiter möchte, um Gott geistig zu erreichen, sollte wissen, dass der Kummer und die Sorgen eine Leiter sind und sich nicht beklagen über das, was ihm widerfährt’.“ (Sefik Can, Divan-i Kebir I, S. 21)
Wer von uns hört schon dieses Wehklagen der Rose? Hz. Mevlana sagt in einem seiner Gedichte: “Es ist das Herzensohr, welches den Schrei der Liebe hört, was für ein lieblicher, was für ein kräftiger Klang; Diese Stimmen kommen von jedem Körnchen. Aus dem Herzen jedes Atoms kommen die Stimmen Seiner Liebe“. (Sefik Can, Güldeste, Gedicht Nr. 25)
Unser geliebter Sefik Can Efendi hat das Thema dieser sieben Pforten oder des siebenköpfigen Drachen wie folgt erläutert (Sefik Can, Mesnevi VI, S. 608):
“Was ist die Hölle? Die Hölle ist deine Nafs. Der siebenköpfige Drache deutet auf die sieben Pforten der Hölle. Diese symbolisieren folgendes:
1. Die Pforte des Stolzes
2. Die Pforte der Gier
3. Die Pforte der Wollust
4. Die Pforte des Neids
5. Die Pforte des Geizes
6. Die Pforte des Zorns
7. Die Pforte des Ruhmes, für manche ist sie die Pforte des Hasses
Solange diese sieben Pforten nicht geschlossen sind, kann der Mensch nicht gerettet werden, nicht das Paradies betreten, nicht ein Mensch werden, nicht den Frieden erlangen! Es sind unsere sieben höllischen Charaktere, die uns vernichten und verbrennen”.
Solange du hinter diesen Eigenschaften herläufst, wird jede einzelne dich zur Hölle schleppen. Jede von ihnen wird zu einem Drachen, so dass Du den siebenköpfigen Drachen nicht mehr beherrschen kannst. Diese schlechten Eigenschaften sollten unbedingt verabschiedet werden. Hz. Mevlana sagt im Divan-i Kebir in einem Gedicht: “Es gibt keine Schlangen im Grab. Du aber bist ein Schlangenkorb. Denn die schlechten Eigenschaften, die du hast, sind einzelne Schlangen. Diese sind alle mit dir verfeindet” (Sefik Can, Divan-i Kebir III, S. 176).
Im Mesnevi Band III, 3471-3480 sind die Themen Hölle und Paradies wie folgt angesprochen (Sefik Can, Seite 274):
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Wenn ein Opfer von dir ungerecht behandelt und verletzt wird, wird diese Grausamkeit in der Hölle zu einem Baum, an dem Zaqqum-Früchte3 wachsen. Wenn du im Zorn Seelen verletzt hast, Feuer in die Herzen geworfen hast, wird dieses Feuer zum Ferment des Höllenfeuers.
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Im Diesseits verbrennt dein feuriger Zorn die Menschen. Das Höllenfeuer, das daraus entsteht, wird dich dort verbrennen.
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Dein Feuer, der Ärger, greift die Menschen hier an. Das Höllenfeuer, das daraus erwächst, wird die Menschen, d.h. dich dort verschlingen.
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Wenn du dich auf diese Weise ärgerst, werden deine Worte, die aus deinem Munde kommen und die Menschen wie Schlangen und Skorpione stechen, in der anderen Welt zu Schlangen und Skorpionen und greifen dich von hinten an.
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Dein Ärger, dein Zorn ist der Same des Höllenfeuers. Habe acht, lösche dieses Feuer des Zorns aus, denn es ist eine Falle für dich.
Hz. Mevlana erklärt im Mesnevi Band III, Doppelvers Nr. 3481, dass das oben erwähnte Höllenfeuer nur durch das Glaubenslicht gelöscht werden kann. Die Erklärung unseres Sefik Can Efendi zu diesem Doppelvers ist wie folgt: “Das Licht der Religion ist wie das Wasser, die schlechten Eigenschaften der menschlichen Natur wie Ärger, Zorn und Wut sind wie das Feuer. So wie das Feuer brennt, werden auch diese schlechten Eigenschaften den Menschen in die Hölle bringen und der Grund sein für sein Verbrennen. So wie das Wasser das Feuer löscht, löscht auch das Licht der Religion (d.h. die Gottesverehrungen, die nach den Regeln der Religion ausgeübt werden, die guten Taten, das menschliche Benehmen) diese schlechten Eigenschaften” (Mesnevi III, S. 275).
1 Die geistige Schönheit, die der Mensch ausdrückt.
2 Übersetzung von Max Henning
3 mandelförmige, bittere Früchte eines Dornengewächses