Mevlana aus Sicht der Europäer (Mai 2006)

Von Peter Hüseyin Cunz, Mai 2006

 

Dieser Text wurde mit leichten Anpassungen im November 2006 in „Rumi & his Path of Love“ veröffentlicht (The Light Inc. New Jersey, USA, ISBN 1-59784-111-0)

 

 

Über Mevlana Celaleddin Rumi und sein Wirken zu schreiben ist heute in Europa und USA fast so, wie wenn Wasser den Fluss hinunter getragen wird. Veröffentlichungen ausgelesener Verse oder Gedichte sowie Kommentare über Rumis dichterisches Werk haben in den letzten zehn Jahren geradezu exponentiell zugenommen. Insbesondere in Nordamerika häufen sich die Bücher und Schriften – viele davon in unterschiedlicher Qualität – was ein deutliches Indiz für den Durst einer spirituell vielleicht etwas orientierungslosen Gesellschaft ist.

Der Name „Rumi“ ist in Europa bekannter als der Ehrentitel „Mevlana“. Nur jene Europäer, die sich vertieft mit dem Werk Mevlanas befassen, werden diesen Titel kennen. Hz. Mevlana hat unterschiedliche Interessenten in Europa: Orientalisten, Philosophen, Humanisten, Psychologen, Künstler, Theologen und Suchende nach einem spirituellen Weg, sie alle finden in Mevlanas Werk Inspirierendes und Bereichendes. In Europa wird die universale Dimension von Mevlanas Botschaft hervorgehoben, wohingegen im Orient von traditionalistischen Kreisen eine Tendenz zu beobachten ist, Mevlanas Botschaft ins Korsett eines dogmatisch verstandenen Islam zu zwängen.

 

Das Begehren der Europäer, die Botschaft Mevlanas ohne ein vom Islam geprägtes Korsett  verstehen zu wollen, ist begreiflich. Europa ist ein Kind der  Aufklärung, die im 17./18. Jahrhundert begann und das Verständnis für Demokratie wiederbelebte und der Säkularisierung den Weg bereitete. Europa lebt in der Grundüberzeugung von der Autonomie der menschlichen Vernunft: Die Vernunft ist die einzige und letzte Instanz, die über Methoden, Wahrheit und Irrtum jeder Erkenntnis ebenso entscheidet wie über die Normen des ethischen, politischen und sozialen Handelns (Meyers Lexikon). Doch der Vernunft zum Trotz ist auch bei den Europäern die Sehnsucht nach Gott geblieben, und einige versuchen, ihren Herzensdurst an den Übersetzungen der Werke grosser Sufis und Exerzitien aus dem Sufismus zu stillen. Zugleich wollen sie aber die individuelle Freiheit bewahren, was zum Widerspruch mit der im Tasawuf zu übenden Hingabe führt. Gerader dieser Widerspruch zwischen individueller Freiheit und religiöser Hingabe hat einen neuen Markt eröffnet mit Angeboten an esoterischen Kursen und Büchern, die unter dem Begriff „Sufismus“ neue Denkweisen und zum Teil fragwürdige spirituelle Cocktails anpreisen.

 

Und wie wurde der Begriff „Sufismus“ (tasawuf) in Europa populär und attraktiv? Drei Namen werden in dieser Frage oft genannt: Inayat Khan (1882 – 1927), G.I.Gurdjieff (1872 – 1949) und Süleyman Hayati Loras (1904 – 1985). Sie haben dazu beigetragen, die Idee eines sozusagen „liberalen Sufismus“ in die Welt hinauszutragen. Parallel dazu erwachte auch das Interesse für bekannte islamische Philosophen, deren Werke die vielfältigen Aspekte und die Universalität des Islams unterstreichen helfen. Die Sicht eines al-Kindi und eines al-Farabi, eines Ibn Sina (Avicenna) sowie eines Ibn Ruschd (Averroes), eines Scheich Suhrawardi, eines Ibn al-Arabi, eines Mulla Sadra und – im Gegensatz zu einigen von ihnen – eines al-Ghasali, sie alle beanspruchen ihren Platz unter dem Dach des Islams. Wenn solche Unterschiede zwischen den grossen islamischen Philosophen und Mystikern bestehen, mit der ganzen Spanne zwischen dem freien Rationalismus der Mu’taziliten und dem heute weit verbreiteten Dogmatismus der bekannten islamischen Rechtsschulen, dann wirkt das beim Europäer zugleich als Hinweis auf die Beschränktheit jener Theologen, die mit aller Vehemenz eine einzige Sicht als Heil bringend verteidigen.

 

Dass beim Verbreiten eines „liberalen Sufismus“ vor allem Mevlana und das Ritual des Sema populär wurden, haben wir den ehrenvollen Bemühungen Süleyman Hayati Loras aus Konya zu verdanken. Doch die Vermarktung des Sema liess nicht auf sich warten, sei es mit populären Veröffentlichungen, oder sei es mit Angeboten spiritueller Ausbildung unter Berufung auf Hz. Mevlana und mit Kursen für den Mevlevi Drehtanz. In diesem undurchsichtigen Markt wächst aber auch das Bedürfnis nach der authentischen Mevlevi-Traditon. Im europäischen Raum existieren in der Schweiz, in Deutschland und den Niederlanden Gruppen des authentischen Mevlevi-Ordens, die sich wöchentlich zum Gebet, Dhikr, Sema und Studium treffen. Doch auch diese Gruppen haben sich mit der zeitgenössischen Kultur und Denkweise auseinanderzusetzen. Auf einige solche Themenkreise soll im Folgenden eingegangen werden.

 

Aus Sicht der Europäer hat der etablierte traditionelle Islam ein ähnliches Problem wie die Kirchen: menschliches Gutdünken verfestigte eine bestimmte Vorstellung der Offenbarung im Laufe der Jahrhunderte zu einem traditionellen System. So wie in den Kirchen ergänzend zu den Aussagen Jesu (alaihi ve selam) ein theologisches Lehrgebäude aufgebaut wurde, so hat der Islam die Sammlung von überlieferten Aussprüchen Muhammads (sallallahu ‚alaihi ve sallam) sowie nachträgliche Rechtsprechungen dazu verwendet, dogmatische Leitgedanken zu fixieren, die nicht in Frage zu stellen sind. Was viele nicht sehen ist die Möglichkeit einer Recht sprechenden Person, in jedem Rechtsfall eine mitfühlende, wohlwollende und gnädige Entscheidung zu treffen. Jede harte Entscheidung – wie beispielsweise das Steinigen einer Frau – ist ein rein menschliches Urteil, das die harten Aussagen der Scharia den wohlwollenden vorzieht.

 

In Übersetzungen des Korans steht an mehreren Stellen die Aussage, dass der Islam die einzige Religion bei Gott sei (beispielsweise die Verse 3:19, 3:85 und 5:3). Mit dieser Übersetzung – durch das Belassen des Wortes „Islam“ in arabischer Sprache – wird suggeriert, dass die einzige Religion bei Gott jener Islam sei, den wir heute in der Welt beobachten. Dies ist aus Sicht eines europäischen Intellektuellen ein grosser Irrtum. Zur Zeit Muhammads (sallallahu ‚alaihi ve sallam) gab es das heutige Konstrukt des Islams noch nicht, so wie es zur Zeit Jesu (alaihi ve selam) die Institution der Kirchen noch nicht gab. Die Aussage, dass der Islam die einzige Religion bei Gott sei, müsste korrekt übersetzt werden: „Die einzige Religion bei Gott ist die Hingabe (an Ihn).“

 

Es ist wichtig, den Europäern zu verstehen zu geben, dass der Koran kein Lehrbuch ist, das man durchlesen kann, um anschliessend ein bestimmtes Wissen zu besitzen. Die koranische Offenbarung ist eine Sammlung von Aussagen, welche die damals gängigen Meinungen über die monotheistische Offenbarung korrigierte und Hinweise gab, wie in der jeweils aktuellen Situationen zu handeln war. Wir können vom Koran nur lernen, wenn wir versuchen, ihn im Kontext des damaligen Geschehens zu verstehen und ihn dann in der heutigen Zeit interpretieren. Dabei bringt allerdings jede Interpretation das Risiko menschlicher Willkür und Unzulänglichkeit. Der Koran sagt selbst, dass uns nur so viel an Botschaft übermittelt wurde, wie wir benötigen, um mit Hilfe der uns geschenkten Vernunft richtige Schlüsse zu ziehen. Es gibt also einen Appell, bei der Interpretation ständig unsere Vernunft zu gebrauchen und traditionelle Deutungen in Frage zu stellen, und gerade dies passt sehr gut in das europäische Denken und fühlen. Ein Europäer wird als Erstes das enorme Potential für die heutige Zeit im Islam erkennen müssen, bevor er dazu neigen wird, Muslim zu werden.

 

Die Bedeutung Hz. Mevlanas für den Islam in der heutigen Zeit ist etwa zu vergleichen mit der Bedeutung Einsteins in der Physik. Einstein hat mit seiner Relativitätstheorie nicht die Gesetze Newtons ersetzt, sondern er hat sie in einem breiteren Lichte gezeigt. Und so hat Hz. Mevlana, der ein vorbildlicher Liebhaber unseres Propheten war, ohne den Kern des Islams in Frage zu stellen, den Pluralismus zugelassen und auf die Schönheit der Vielheit hingewiesen. Eine religiöse Gemeinschaft (Umma), die keine Vielfalt zulässt, verfällt in den Fundamentalismus. Hz. Mevlana hat gezeigt, dass Gottesgläubigkeit und Demokratie sich ergänzen können. Gottesgläubigkeit verlangt die Hingabe an die letztendliche Autorität Gottes und Seine Gebote. Im Gegensatz dazu verlangt ein demokratisches Zusammenleben in der Gesellschaft das Eingehen auf Kompromisse auch gegenüber Andersgläubigen. Die Lösung dieses Gegensatzes liegt in der Anerkennung der essenziellen Gleichwertigkeit aller Menschen und in der Erkenntnis, dass wir Gottes Geheimnisse nie ergründen können.

 

Im heutigen Mevlevi-Orden sind mehr und mehr Frauen tätig, und diese werfen verständlicherweise immer wieder die Frage nach gleichen Rechten für die Frau auf. Sie argumentieren, dass unser Prophet Muhammad (sallallahu ‚alaihi ve sallam) wie alle grossen Propheten für die Würde aller Menschen und damit auch für die Rechte der Frauen gekämpft hat. Dank ihm haben die Frauen in der damaligen Gesellschaft zu ihrer Würde gefunden. Es ist darum schwer zu akzeptieren, dass gerade in islamischen Ländern den Frauen weit weniger Rechte als den Männern zugesprochen werden. Ein Muslim wird gerne den Propheten zum Vorbild nehmen, doch aus europäischer Sicht kann es nicht darum gehen, die damalige Lebensweise des Propheten nachzuahmen. Viel mehr sollten wir seine tugendhafte Absicht und seinen Eifer für das Gute in unsere Lebensweise übernehmen. Die Tatsache, dass der Prophet mehrere Frauen hatte, kann nicht in die heutige Zeit übertragen werden, wohl aber sein Kampf für die Rechte der Frau.

 

Ohne starke und von der Vernunft geprägte Argumente wird der Europäer nicht zur Schönheit und Universalität des Islams finden können. Darum haben philosophische Diskussionen in europäischen Mevlevi-Gruppen einen wichtigen Platz. Dies schmälert keineswegs die Fähigkeit eines Mitglieds, sich vollständig dem Göttlichen Geist hinzugeben, eher wird diese Fähigkeit gestärkt. Letztendlich geht es um eine Qualität, die ich am besten in den Worten einer Frau aus der Schweizer Mevlevi-Gruppe beschreiben kann:

 

Das Sema ist ein wichtiger Bestandteil in meinem Leben geworden. Kürzlich, hat eine allerliebste Schwester mich gefragt, was Sema für mich bedeutet. Ich hatte lange gebraucht, das Sema in meinem Leben zu implementieren. Jahrelang habe ich einfach „nur“ diesen Moment des Drehens genossen. Doch dieses Gefühl während dem Sema, wünschte ich mir auch im Alltag zu spüren. Immer, wenn diese quälenden Fragen kamen, habe ich versucht in Gedanken zu drehen und das Bewusstsein im Herzen zu halten. Sema ist für mich eben auch ein Teil des sogenannten „Nichts-Tun“. Das ganze Universum dreht sich. Als ein winziges Teilchen in diesem Universum, lasse ich mich bewusst, in Harmonie mit der Natur mitdrehen. Sema ist für mich auch ein Zeichen, dass ich mit dem Fuss in dieser irdischen Realität verankert bin. Ich muss Standpunkt, Stabilität, Ausdauer und Durchhaltevermögen zeigen. Gleichzeitig darf ich aber auch meine Hand nach oben ausstrecken, ein Rückgrat haben und frei sein von Fragen, Bindungen und weltlichen Dingen.Gespannt zwischen Himmel und Erde, in dieser und in einer anderen Welt sein, oder wie die Derwische sagen auf dieser Welt leben, doch nicht von dieser Welt sein. Es hat mir oft geholfen wieder auf den Punkt zu kommen, zu verwurzeln im unbedingten Vertrauen zu Gott. Es hat mir geholfen wieder bewusst zu sein, dass ich in dieser Welt lebe, jedoch nicht von dieser Welt bin. Während der Drehung können sich die Fragen in meinem Kopf nicht mehr festhalten. Sie werden wie weggeweht. Dann bin ich, einfach so ganz diesem Augenblick ergeben, so wie ich bin, so wie die Blumen, wie die Bäume, wie die Berge oder wie die Sterne am Himmel.

 

Spiritualität und Religion beziehen sich auf Glaubenssysteme und Erfahrungen, die mit dem Verstand nie vollständig erfassbar und mit der alltäglichen Sprache nicht beschreibbar sind. Der notwendige Dialog hingegen findet im Medium der Sprache statt und muss auf einer für alle Beteiligten nachvollziehbaren, vernünftigen Logik basieren. Da sich der Verstand auf einer anderen Ebene befindet als das spirituelle Erleben, kann er als Botschafter höchstens zu beschreiben versuchen, was in einer anderen Welt, die beim Dialog meist nicht sichtbar ist – vernommen wurde. Hz. Mevlana war weit mehr als ein Dichter und weit mehr als ein nachträglich erkannter Mystiker. Für die Anhänger des Mevlevi-Pfades ist er ein Heiliger, dessen Geist noch heute die Herzen seiner Anhänger zu erleuchten vermag. Hz. Mevlana kann für Europäer ein Tor zu jenem Islam sein, der  in seiner Schönheit und Universalität aufgeklärte Seelen zu berühren vermag. Möge es uns geschenkt sein, dass islamische Protagonisten dieses Tor nicht wieder zuschlagen!