Das letzte Interview von Sefik Can Efendi (2005)


SERTARIK, MESNEVİHAN

Şefik Can
1909-2005

 

Şefik CAN (22. Juni 1909 – 23. Januar 2005) wurde im Jahr 1909 im Dorf Tebricik in der Provinz Erzurum geboren. Die Primarschule besuchte er in Yıldızeli.
Bereits im Kindesalter lernte er von seinem Vater, einem Mufti, Arabisch und Persisch. Im Jahr 1929 schloss er die Kuleli Militäroberstufe ab und 1931 ebenso die Militärakademie.
Später absolvierte er mit der Bewilligung des Ministeriums für die Nationale Verteidigung an der Universität in Istanbul seine Prüfung und erhielt das Lehrerdiplom. Im Jahr 1935 beendete er sein Praktikum unter der Aufsicht von Tahir-ül Mevlevi an der Kuleli-Militäroberschule und begann als Lehrer zu unterrichten.
Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1965 unterrichtete er an verschiedenen Militärschulen, an zivilen privaten Hoch- und Oberschulen Türkisch und Literaturwissenschaft.
Şefik CAN lernte aufgrund seines grossen Interesses an der Weltliteratur auf eigene Initiative Englisch, Französisch und Russisch, um die betreffende  Fremdliteratur in der Originalsprache lesen zu können. Er lobte die Zeit seiner Pensionierung, da sie ihm endlich die Möglichkeit gab, sich ganz der Arbeit zu widmen, insbesondere sich mit den Werken Hz. Mevlanas zu beschäftigen und von ihnen zu erzählen.
Şefik CAN, der eine Zeit lang krank in seinem Haus in Istanbul lag, während er von seiner Frau Sabahat Hanim, von der Familie des Çelebi wie auch von seiner Assistentin Nur Artiran Hanim und seinen nahen Freunden intensiv betreut wurde, vereinigte sich in der Nacht vom 23. auf den 24. Januar 2005 um 22:50 Uhr mit Gott. Der selige CAN führte sein Leben auf dem Weg Gottes als schlichtes Geschöpf, das die Bescheidenheit nie aus der Hand gegeben hat; die Liebe zu Mevlana und zu Konya in der Brust tragend hat er dem Befehl „Irciî…“ („Kehre zu Deinem Ursprung zurück“) des grossen Schöpfers gehorcht und ist aufgebrochen auf den Weg der Vereinigung.

Şefik CAN selig wurde am 26. Januar von seinen Freunden von Istanbul nach Konya gebracht. Nach dem Mittagsgebet in der Selimiye-Moschee wurde er im Grab, das er zuvor selber hatte herrichten lassen, beerdigt.

      Dr. Nuri Şimşekler

SEINE WERKE
Veröffentlichungen durch das Kulturministerium, von Ötüken und anderen Herausgebern:

o Mevlânâ und Plato (1964)
o Klassisch Griechische Mythologie (1970)
o Hz. Mevlânâ’s Vierzeiler (1990)
o Hz. Mevlânâ’s Leben, Persönlichkeit und Ansichten (1995)
o Hz. Mevlânâ’s Mesnevi Übersetzung (3 Bücher, 1999)
o Hz. Mevlânâ’s Dîvân-ı Kebîr Auswahl (4 Bücher-2000)
o Cevahir-i Mesneviyye (2 Bücher, 2001)
o Destegül (2001)
o Mesnevi Geschichten (2003)
o Band 5-6 der Mesnevi-Übersetzung von Tahir-ül Mevlevi vollendet, als 4 Bücher veröffentlicht (2001)

Einige Werke des Şefik CAN selig liegen noch zum Druck bereit. Er hielt Vorträge an den von der Selçuk-Universität und der Stadtgemeinde Konya organisierten Symposien und Konferenzen. In verschiedenen Zeitschriften erschienen von ihm zahlreiche Artikel.

Das letzte Interview

Nuriye AKMAN
Zeitung „Zaman“, 25. Januar 2005

„DERJENIGE, DER SEINE ESSENZ NICHT KENNT, KANN MEVLANA NICHT KENNEN“.

Ich habe Hz. Mevlana durch die Übersetzungen und Erläuterungen des seligen Şefik Can kennen und lieben gelernt. Jahrelang habe ich, jedes Mal wenn ich das „Mesnevi“ oder die anderen Gedichtbücher in die Hand nahm, von Herzen Grüsse an Şefik Can geschickt und mich bedankt. Ich weiss nicht warum der Wunsch mit ihm ein Gespräch zu führen, erst so spät in mir entstanden ist. Im letzten Sommer bin ich dann aus einem plötzlichen Entschluss heraus, ohne dass etwas Aktuelles vorgelegen hätte, zu seinem Haus in Saskinbakkal gegangen. Wegen der Tiefgründigkeit unserer Themen, aber auch wegen der durch sein hohes Alter bedingten Schwierigkeiten, dauerte unsere Unterredung Stunden. Wäre Nur Artiran nicht gewesen, seine Schülerin und Tochter, seine Seelengefährtin, die sich über Jahre hinweg nicht eine Minute von ihm trennte, und der er in eben dieser Unterredung in Form eines Testamentes für die Zeit nach seinem Tode seine Aufgaben anvertraute, hätte unser Gespräch nicht einen so fliessenden Verlauf genommen, und wir könnten es Ihnen nicht in dieser Form unterbreiten. Die Ohren des Seligen hörten so wenig, dass Nur Hanim jede Frage von mir Stück für Stück, als ob sie jedes Wort Silbe für Silbe lesen würde, einige Male in das Ohr ihres ‚Dede’ wiederholte. Der Selige sprach mit sehr leiser Stimme. Deshalb blieb es wieder Nur Hanim überlassen, es so zu „übersetzen“, dass auch ich es verstehen konnte. Bei der Transkription der Kassette habe ich auch für die Ausarbeitung der Rede Nur Hanim um Unterstützung gebeten. Weil der Selige meine Fragen umfassend beantworten wollte und deshalb die Hauptthemen mit tiefgreifenden Nebenthemen schmückte, hatte ich Mühe, die Reihenfolge seiner Logik zu verfolgen. Ich möchte meine Dankbarkeit gegenüber Nur Hanim aussprechen, die sowohl dem Wortlaut als auch dem Geist des Seligen sehr nahe war. Ich denke, es war ein Geschenk, das letzte Interview mit Şefik Can machen zu können, und ich spüre die Verantwortung, seinen letzten Willen mit der Gesellschaft zu teilen. Şefik Can, der letzte ‚Mesnevihan’, der in Mevlana Verliebte, lehrte das Mevlevitum nicht nur als Mensch, der es am besten wusste – er war auch der Mensch, der es am besten vorlebte. Ich bin überzeugt, dass es jedermann erschüttern wird, dass er das Gut, welches er von Tahir-ül Mevlevi erhalten hat, an eine Frau weitergibt! – Denn Şefik Can möchte, dass Nur Artiran ‚Postnischen’ eines Sema ist, welches nur aus Frauen besteht. Auch möchte er, dass Nur Artiran die ‚Sohbets’ weiterführt, die er zu seinen Lebzeiten durch die Liebe Gottes erhalten (‚Haqq’) und wiederum mit Liebe an die Menschen weitergegeben hat (‚Halq’). Ich habe diese Unterredung den ganzen Sommer warten lassen. Ich dachte, die beste Zeit für die Veröffentlichung wäre der 17. Dezember. Doch er war während diesen Tagen sehr krank und somit musste ich diese verschieben. Die Veröffentlichung wurde schliesslich für heute bestimmt.

 

Effendim , wie haben Sie Hz. Mevlana kennen gelernt?

Effendim, bendeniz ist der Sohn eines Muftis aus einer Provinzstadt. Ich bin in der Stadt Tebricik der Provinz Erzurum geboren, wo später mein Vater ein sehr geachteter Mufti wurde. Mein Vater war sehr interessiert an Literatur. Er war sowohl ein wertvoller Religionsgelehrter, der in der ‚Medresse’ studiert hatte, als auch ein intellektueller Lehrer in der ‚Dar-ul Muallim’. Bevor ich noch zur Schule ging lehrte mein Vater mich Persisch und Arabisch. Ich kann sagen, dass ich das Sprechen durch das Auswendiglernen von Hz. Mevlanas Gedichten gelernt habe. Viele Gedichte, die ich noch heute auswendig zu rezitieren versuche, sind Gedichte, die mich mein Vater damals lehrte. Die Nähe, die ich zu Hz. Mevlana habe, begann mit der Liebe meines Vaters selig für Hz. Mevlana. Diese Liebe, die mein Vater gegenüber Hz. Mevlana empfand, hat auch mich beeinflusst. Wegen des ersten Weltkriegs gaben wir unser Hab und Gut auf und zogen nach Sivas und von dort weiter nach Yozgat. Wegen der Grausamkeit des Krieges zogen wir durch viele Orte, bis wir zwischen Sivas und Yozgat schliesslich in eine Ortschaft namens Yildizeli kamen.
Bereits im Kindesalter sah und erlebte ich alle Schmerzen eines Krieges. Mein Vater wurde zum Mufti von Yildizeli ernannt, der Ortschaft, in die wir gekommen waren. Als ich die Primarschule besuchte, liess mich mein Vater Gedichte von Hafis, Saadi und Mevlana auswendig lernen und aus dem Buch „Gülistan“ von Saadi lesen. Am Ende meiner Primarschulzeit versuchte mein Vater auch, mich über die Werke dieser drei Heiligen zu belehren.

Dann besuchte ich an der Militärschule in Tokat die Mittelstufe und danach an der Militärschule Kuleli die Oberstufe. Indem ich die Oberstufe und Militärakademie  abgeschlossen hatte, war ich Offizier geworden. Doch ich verspürte in mir die grosse Sehnsucht, Lehrer zu werden. Denn die Liebe zu Büchern, zum Wissen, zum Lehren und Lernen, die ich bei meinem Vater als meinem ersten Führer und Lehrer gesehen hatte, war auf mich übergegangen. So besuchte ich an der Universität in Istanbul heimlich Vorlesungen über die Literaturwissenschaften. Als das bekannt wurde, teilten sie mich in eine Provinz namens Vize im europäischen Teil in eine Division ein. Aber auch dort habe ich nicht auf meine Liebe verzichtet. In einem Brief an den Divisionskommandanten erzählte ich ihm von der Liebe, die ich für den Lehrerberuf empfand und bat ihn, mir die Erlaubnis zu geben, das Studium der Literaturwissenschaften abzuschliessen. So habe ich an der Universität mit der Erlaubnis meines Kommandanten die Lehrerprüfung abgelegt und bestanden. Doch um Lehrer zu werden, musste ich noch ein zweijähriges Praktikum absolvieren. Dazu wurde ich an die Oberstufe der Militärschule Kuleli zu Hz. Tahir-ül Mevlevi geschickt.

So konnte ich in dieser Zeit Hz. Tahir-ül Mevlevi kennenlernen. Ich hatte die Ehre, ihm sechzehn Jahre lang zu dienen und mit ihm zusammen zu sein. Seht doch diese göttliche Fügung: sowohl meine weltliche als auch meine geistige Urkunde empfing ich aus der Hand von Hz. Tahir-ül Mevlevi. Das ist für mich ein sehr grosses Geschenk Gottes. Mein erster Lehrer war mein Vater selig. Doch auch Hz. Tahir-ül Mevlevi liebte ich wie meinen Vater, er war mein zweiter Lehrer. Er erleuchtete meinen Weg zu Hz. Mevlana und führte mich mit seiner Erfahrung. Die Liebe, die Hz. Tahir-ül Mevlevi für Hz. Mevlana empfand, hinterliess in mir sehr tiefe Spuren. Deshalb habe ich alle Klassiker der Weltliteratur wie auch die Bücher der meisten bekannten Dichter gekauft und gelesen und somit mein Leben dem Lesen gewidmet. Es entstand eine Bibliothek von 10’000 Büchern. Mit der Zeit hatte ich eine Neigung für die altgriechische und lateinische Literatur entwickelt. So schrieb ich sogar ein Buch über die klassische griechische Mythologie. Ich erzähle dies alles mit der Absicht zu zeigen, dass ich nicht ahnungslos von Hz. Mevlana eingenommen worden war; vielmehr hatte ich die Weltliteratur gelesen, erforscht und gründlich studiert. Doch am Ende kam mir dies alles – neben den Werken von Hz. Mevlana – leer und nutzlos vor.

 

1 Effendim ist in diesem Interview als eine Höflichkeitsanrede und nicht als eine Anrede für den/die Scheich/a zu verstehen.

 

Effendim, wird der Vierzeiler „Komm wer auch immer du bist, komm…“ von den Menschen der heutigen Zeit richtig verstanden?

Wie jeder weiss, stammt dieser Vierzeiler nicht von Hz. Mevlana. Der Bibliotheksbeamte der ‚Dergah’, Necati Bey selig, sah diesen Vierzeiler in einer Ausgabe mit alten Schriften als Vierzeiler von Hz. Mevlana an. Ohne die Sache gründlich zu untersuchen verbreitete er ihn in seiner Umgebung sodann als Vierzeiler Hz. Mevlanas. Dagegen ist in der Anthologie „Halabat“ von Ziya Pascha dieser Vierzeiler als Gedicht aufgeführt, das von jemand anderem stammt. Bei einem weiteren von Hand geschriebenen Vierzeiler habe ich dies auch beobachtet. Da es von Hz. Mevlana aber viele derartige und sogar noch bewegendere Gedichte gibt, kann man trotzdem annehmen, es sei von ihm. Das ist letztlich auch nicht so wichtig. Das eigentliche Problem ist vielmehr, dass man ahnungslos ist über die Seele dieses Vierzeilers und an seiner Form verhaftet bleibt, was dann dessen falsches Verständnis veranlasst: „Komm, oh Gläubiger, komm oh Mensch, wer immer du auch bist. Ob Götzenanbeter, Ungläubiger; auch wenn du hundertmal das Gelöbnis gebrochen hast, komm“ ist ein Hinweis auf den Vers aus dem Koran „Seid nicht hoffnungslos auf die Barmherzigkeit Gottes“ wie auch ein Hinweis auf alle Verse des Koran, in denen Er den Menschen mit „Oh Menschen…“ anspricht. – Wie sündhaft der Mensch auch sein mag, wenn er von ganzem Herzen bereut, wird er gereinigt. – Nun möchte Hz. Mevlana sagen: „Oh Mensch, dein Herz ist voller Götzen. Doch auch wenn es voll von Götzen ist und umfasst vom Schmutz der niederen Seelen, sei deshalb nicht hoffnungslos, komm in unsere ‚Dergah’, nimm die Axt der Liebe und des Glaubens in die Hand und zerschlage alle Götzen in dir. Falls du Wein trinkst, erziehe deine ‚Nafs’ in unserer ‚Dergah’, zerschlage diese Flasche auf dem Stein und trinke den Wein Gottes. Komm, aber wasche dich mit dem Wasser der Wahrheit bei uns, befreie dich von deinem Schmutz und reinige dich!“
Er sagt nicht: „Komm, in unserer ‚Dergah’ ist alles erlaubt. Die Dinge, die die Menschen draussen nicht akzeptieren, kannst du in unserer ‚Dergah’ tun, bei uns wird das Gefallen finden…“; doch die Menschen verstehen es falsch. Indem dieser Vierzeiler ständig zitiert wurde, machte er einen schlechten Eindruck auf das Volk. Die Leute haben Mevlana so auf eine falsche Weise kennen gelernt und infolge dessen wurde er als Vertreter einer Sekte oder einer anderen Konfession angesehen oder gar als ein anderes Wesen auf einem Weg ausserhalb des Islam verstanden. Es sah so aus, als ob Hz. Mevlana all das, was Gott nicht akzeptiert, all jene Dinge, die unser Prophet für nicht angebracht hielt, gut heissen würde. Wie ist das möglich? – Mevlana sagte im Gegenteil: „So lange ich lebe, bin ich der Diener des Korans, bin die Erde, auf die unser Prophet Effendi getreten ist“. Und unser Prophet Effendi sagte in einem ‚Hadith’: „Wenn die Menschen eine Sünde, die sie begangen haben, bereuen und dann wieder die gleiche Sünde begehen, versündigen sie sich noch schwerer.“ Wie könnte also eine solche, falsch verstandene Aussage wie „Brich dein Gelübde hundertmal, es ist nicht wichtig…“ dem islamischen Glauben gerecht werden? Diejenigen, die ahnungslos sind bezüglich der Seele und Wahrheit dieser Worte und bei ihrer äusseren Bedeutung stehen bleiben, werden Mevlana natürlich falsch verstehen. Hat denn Mevlana nichts anderes gesagt? Warum liest niemand den Vierzeiler: „Ich bin der Diener und Sklave des Korans. Ich bin die Erde, auf die Hz. Mohammed getreten ist…“? Sagt das nichts aus über Mevlana? Um den anderen Vierzeiler zu verstehen, ist es nötig auch über diesen nachzudenken. Doch da es der Eigenschaft der ‚Nafs’ nur gelegen kommt, möchte niemand diese Anstrengung auf sich nehmen.
Ich möchte ein Ereignis aus meiner Erinnerung erzählen, das mich sehr berührt hat: Vor Jahren war ich in Konya. Zwei Ausländer fragten jemanden aus Konya nach dem Weg zum Grabmal Hz. Mevlanas. Bevor der Mann aus Konya ihnen den Weg beschrieb, fragte er sie: „Von wo seid ihr hierher gekommen?“ Die sagten darauf, woher sie kamen. Der Mann aus Konya sagte ein wenig verärgert: „Habt ihr denn nichts besseren zu tun, als von dort hierher zu kommen, nur um diesen Mann zu sehen“. Wenn dieser Mensch gehört und gewusst hätte, dass Hz. Mevlana gesagt hat „So lange ich lebe bin ich der Diener und Sklave des Korans“, hätte er sich nicht so verhalten.

Was für ein Mensch ist Hz. Mevlana in Ihren Augen?

Es steht uns nicht zu, ihn auf eine ihm würdige Weise zu verstehen und zu beschreiben. Deshalb hat jeder Mevlana so verstanden und beschrieben, wie er dazu fähig war – jeder beschrieb somit das, was er in seinem eigenen Spiegel sah. Grosse Heilige sind wie ein grosser Ozean, im Vergleich dazu sind wir klein wie ein Wassertropfen. Wie ist es möglich, dass ein kleiner Wassertropfen den grossen Ozean richtig sieht und ihn dem entsprechend richtig beschreibt? Mevlana, der das vor Hunderten von Jahren erkannt hat, hat sich selbst in einem Vierzeiler so beschrieben: „Solange ich lebe, bin ich der Diener des Korans, bin die Erde, auf die Hz. Mohammed getreten ist. Wenn jemand meinen Worten eine entgegen gesetzte Bedeutung zuschreibt oder mich auf eine andere Weise kennt, beklage ich denjenigen, der diese Worte gesagt hat wie auch jene Worte selbst“. Dieser Vierzeiler zeigt uns den geistigen Weg Hz. Mevlanas so, dass ihn jeder verstehen kann. Wir erinnern uns an ihn als an den Sultan der Liebe. Denn er sagte: „Auf dieser Welt hat jeder einen Anteil, mein Anteil ist die Liebe – als die Liebe verteilt wurde, wurden mir neun Zehntel und dem Universum ein Zehntel zugeteilt. Ich bin das Kind der Liebe, die Liebe hat mich geboren, sowohl meine Mutter als auch mein Vater sind die Liebe“. Seit Jahren erzählen wir von seiner Einfachheit und Bescheidenheit und kommen nicht zum Ende, was ohnehin nicht möglich ist. Wir haben auch nicht das Recht, denen etwas zu sagen, die von sich behaupten auf dem Weg Mevlanas zu sein – aber seht her, was dieser grosse Mensch sagt, der ein Beispiel für die Menschheit ist: „Sie haben meinen Turban, meinen Umhang und meinen Kopf bewertet. Doch die waren noch weniger Wert als ein Dirham… Hast du denn meinen Namen noch nie gehört? Ich bin ein Nichts, ich bin ein Nichts, ich bin ein Nichts.“ Das ist der Beweis für die Bescheidenheit eines so grossen Heiligen wie Hz. Mevlana. Ein Nichts zu sein, sich bewusst zu werden, dass man ein Nichts ist und mit diesem Bewusstsein weiter zu gehen, ist nicht einfach. Hz. Mevlana sagt: „Wenn ich den Menschen bis in alle Ewigkeit beschreiben würde, könnte ich damit nicht fertig werden“. Wie könnte bendeniz Hz. Mevlana, der ein Beispiel für die Menschheit ist, in kurzen Worten beschreiben? – Auf die schönste Art hat diesen grossen Heiligen wiederum ein anderer grosser Heiliger beschrieben; Hz. Abdurrahman Câmi sagte: „Das „Mesnevi“ genügt, um den Wert dieses geistigen Universums, dieses einzigartigen Paschas zu erwägen. Was könnte ich über die Eigenschaften und über die Erhabenheit dieses grossen Wesens sagen? Er ist kein Prophet, aber er hat ein Buch gebracht“.

Wir wissen, dass Sie im Jahr 1960 mit Selman Tüzün einige Male in Konya am ‚Sheb-i Arus’ auf dem Post gestanden sind. Warum haben Sie sich danach zurückgezogen und diese Aufgabe nicht weitergeführt?

Durch das Geschenk Gottes ist bendeniz später nicht mehr auf dem Post in Konya gestanden. Wenn ich diese Aufgabe weitergeführt hätte, hätte ich mein Leben als Zeremonie-Scheich verbracht. Auf diese Weise hätte ich meine jahrelange Arbeit über die Werke Mevlanas – aus meiner Sicht lediglich ein Dienst für die Liebenden Hz. Mevlanas –  nicht ausführen können. Immer waren die Bücher der wichtigste Teil in meinem Leben. Deshalb hat unser Hz. ‚Pir’ mir eine grosse Gnade erwiesen und mir erlaubt, an seinen Werken zu arbeiten. Er liess bendeniz nicht die Möglichkeit, sich mit anderen Dingen zu befassen und so Zeit zu vergeuden. Auf diesem Weg liess er es mir zuteil werden, ihm mit seinen eigenen Werken zu dienen. Wie viel ich auch danken mag, es ist zu wenig gegenüber der Grösse dieses göttlichen Geschenks.

„MEINE GRÖSSTE BESORGNIS IST, DASS DAS SEMA ZUR FOLKLORE UMGEWANDELT WIRD“.

Ich habe dem Vizepräsidenten, Dozent Dr. Sezai Kücük der Sakarya Universität, Theologische Fakultät der Abteilung Mystik, gefragt, ob es im Mevlevitum Scheichas gegeben hat. Ich wollte verstehen, ob Nur Artiran, die den ‚Destar’ von Şefik Can bekommen hat, die erste ist.

Ja, im 16. und 17. Jahrhundert lebten Frauen, die diese Aufgabe übernommen hatten. Niemand fragte damals: „Können aus Frauen Scheichas werden?“ Ob diese Tradition während vier bis fünfhundert Jahren wirklich nicht weitergeführt wurde, oder ob sie nur in gewissen Gebieten weitergeführt-, nicht aber dokumentiert wurde, weiss man nicht; aber eines ist klar, nämlich dass Nur Artiran ein sehr wichtiges Symbol für das 21. Jahrhundert ist. Doch Achtung: Das Naturell der Lehre, welche die Scheicha vertritt, unterstreicht nicht ihr Frausein. Der ‚Destar’ wird ihr nicht gegeben, weil sie eine Frau ist. Er wird ihr gegeben, weil sie dem Schöpfer gegenüber Liebe empfindet und diese mit den Geschöpfen auf die schönste Weise teilt, ohne weltliche oder sogar geistige Erwartungen für ihren eigenen Vorteil zu empfinden. Wenn man in Ihm verschmilzt, bleibt weder Weiblichkeit noch Männlichkeit übrig.

Wie verstehen Sie die Worte von Hz. Mevlana im „Mesnevi“: „Die Frau wurde nicht erschaffen, sie ist ‚Erschaffer’ “?

Effendim, viele meinen, Mevlana habe diesen Doppelvers im „Mesnevi“ gesagt, weil die Frauen Kinder gebären, und sie deshalb nicht erschaffen wurden, sondern selbst ‚Erschaffer’ seien. So sollte man nicht denken. Denn alle weiblichen Wesen essen, trinken und gebären. Hz. Mevlana sagt hier, dass Frauen nicht erschaffene Wesen seien sondern ‚Erschaffer’ – und stellt sie somit wie einen Schöpfer dar – weil Frauen in ihren Gefühlen empfindsamer sind als Männer, weil ihre Herzen mit mehr Liebe gefüllt-, sensibler, erbarmungsvoller, geduldiger und gütiger sind. Denn in der „Erschaffenheit“ der Frauen sind manche Gefühle, die Manifestationen Gottes sind, im Vergleich zu denen der Männern grösser; deshalb hat er die Frau nicht als irgendein Wesen, sondern als ein hoch erhabenes Wesen gesehen. Als ein Wesen, das die Schönheiten Gottes in sich gesammelt hat… so drückt er seine Bewunderung und seinen Respekt den Frauen gegenüber aus. Die Männer mögen im weltlichen Bereich stärker sein als die Frauen; die Frauen jedoch sind seelisch und geistig zweifellos stärker als die Männer. Wenn unser Prophet sagt: „Das Paradies ist unter den Füssen der Mütter“, sagt er dies nicht nur, weil Frauen Mütter sind und gebären können. Die Frauen offenbaren andere Manifestationen als die Männer, deshalb geniessen sie dieses Ansehen. Gewiss zeigen sie trotz dieser Erhabenheit auch menschliche Seiten wie die Schwächen der ‚Nafs’. Auch dies sagte Hz. Mevlana in gewissen Doppelversen ohne zu zögern. Leider sind sich viele Frauen und Männer der  göttlichen Werte der Frau nicht bewusst; die Männer kennen die Frauen hauptsächlich über die Sexualität und die Frauen wiederum stellen ihre Sexualität leider zu sehr in den Vordergrund, es ist sehr schade…

Was halten sie davon, dass Frauen und Männer gemeinsam Sema machen?

Wie man weiss, stammt das Wort ‚Sema’ aus der arabischen Wurzel „sem-i“, deren Bedeutung „zuhören“ ist. Sema bedeutet also nicht, wie viele meinen, nur das Drehen. Es geht vielmehr darum, beim Drehen durch die göttlichen Stimmen, die man hört, in Ekstase (oder einen anderen Bewusstseins-Zustand) zu geraten. Die Frau ist auch ein Mensch. Es ist selbstverständlich, dass auch sie schöne Stimmen hört, dass auch sie sich mit Musik befasst und dass somit auch sie das Sema praktiziert. Zudem ist die Frau gefühlvoller und empfindsamer als der Mann. Deshalb können wir der Frau nicht sagen: „Höre nicht die schönen Stimmen, gerate nicht in Ekstase und dreh dich nicht im Sema“. Früher waren die Frauen nirgendwo gemeinsam mit den Männern. Ein Leben, wie wir es heutzutage führen, konnte man sich damals nicht einmal erträumen. Heute aber wetteifern die Frauen in allen Bereichen mit den Männern. So gibt es Anwältinnen, Ärztinnen, Lehrerinnen – sie wetteifern in jedem Beruf und überall mit den Männern. Warum sollte die Frau, die überall gemeinsam mit dem Mann das Leben erkämpft, kein ‚Semazen’ sein können? Effendim, „dies ist für Frauen verboten“ zu sagen ist eine Verachtung der Empfindsamkeit und der Gefühle der Frauen, es ist eine grosse Beleidigung der Weiblichkeit. Sema betrifft die Frauen ebenso wie die Männer. Weil die Frauen gefühlvoller und sensibler als die Männer sind, werden sie die Schönheit, die in der Seele dieses Gebets ist, noch deutlicher empfinden.
Wenn wir uns nicht von der Essenz entfernen und allen Grundlagen treu bleiben, sollten wir es nicht als Verleugnung betrachten, wenn wir gewisse Regeln auf eine Weise, die unseren geistigen Glauben nicht lähmt, den heutigen Bedeutungen anpassen. Überall auf der Welt, wo es Mevlevis gibt, nehmen die Frauen am Sema teil. Ich bin der Überzeugung, dass man das nicht abschaffen kann indem man so tut, als würde es nicht existieren. Anstatt zu diskutieren, ob Frauen ‚Semazen’ sein können oder nicht, gibt es nur eins zu tun: man muss überlegen, wie dieses Gebet unter heutigen Bedingungen weitergeführt werden kann, ohne dass es entartet wird, ohne dass man sich dabei von der Essenz trennt. Man sollte versuchen Lösungen zu finden, die verhindern, dass Frauen und Männer, welche die Materie höher stellen als den inneren Sinn oder welche ‚Adab’ (gutes Benehmen) nicht kennen, das Sema mit wirtschaftlichen Absichten ausüben. Das sollte man diskutieren und bereden. Wenn ich sage, dass Frauen das Sema praktizieren sollen, hat natürlich auch bendeniz seine Bedenken. Ich vermute, dass die Angst derjenigen, die dagegen sind, auch meine Befürchtung ist: nämlich die, dass das Sema wie eine Tanzvorstellung überall und in jedem Umfeld ausgeübt werden kann, dass es sich vom Gebet zur Folklore wandelt und dass so unwissende Frauen zu wirtschaftlichem Zweck ausgenützt werden. Das ist eine berechtigte Sorge, bendeniz ist deswegen ebenso beunruhigt. Doch das kann man nicht verhindern, indem man sagt, die Frauen dürften kein Sema machen.

Haben Sie diesbezüglich einen Vorschlag?

Es ist kein Vorschlag – ich habe diesbezüglich einen grossen Wunsch: der Wunsch von bendeniz ist eine Sema-Gruppe, die nur aus Frauen besteht, welche in der Gemeinschaft Dienst tun. Ich möchte, dass eine Scheicha auf dem Post steht; der ‚Semazenbaschi’, alle ‚Semazens’, die Musiker… kurz gesagt alle, die während einem Sema dem Ritual dienen, sollten Frauen sein. Eine Semazen-Gruppe von Frauen, die sich der Ernsthaftigkeit der Sache bewusst sind und ihren Dienst nur für Gott ausüben – und dies in einer Schönheit und Seriosität, die verhindert, dass die Frauen ausgenützt werden können. Das ist der grösste Wunsch, den bendeniz verwirklicht sehen möchte. In dieser Angelegenheit habe ich einen letzten Willen, den ich jetzt zum ersten Mal Ihnen erläutere: Wenn sie, nachdem ich gestorben bin, in der Galata Mevlevihanesi ein Sema Ritual halten möchten, wünsche ich, dass meine Schülerin Nur Artiran auf dem Scheicha Post sitzt, dass der ‚Semazenbaschi’ und alle ‚Semazens’ wie auch die Musiker Frauen sind. Ich bitte darum, dass kein einziger Mann eine Aufgabe übernimmt; alle, die eine Aufgabe übernehmen, sollen Frauen sein. Das ist mein letzter Wille. Ich mische mich nicht ein, ob die Zuhörer Frauen oder Männer sein sollten, das kann auch gemischt sein. Es mag kommen, wer kommt. Diejenigen mögen kommen, die mich lieben und das auch so wollen… Ich bitte darum, dass die Überzeugung dieses Fakirs, dass es zwischen Frauen und Männern keinen Unterschied gibt, auch in seinem letzten Willen Ausdruck findet. Ich habe mir sehr gewünscht, ein solches Ritual während meiner Lebenszeit zu sehen; leider habe ich es nicht erlebt. So möge es wenigstens geschehen, wenn bendeniz diese Welt verlassen hat, so dass meine Seele Frieden findet.

Man akzeptiert, dass Sie „der letzte lebende ‚Mesnevihan’ “ sind. Gott möge Ihnen langes Leben schenken, doch was geschieht nach Ihnen? Hz. Tahir-ül Mevlevi hat sie ausgebildet, und wen haben Sie diesbezüglich ausgebildet?

Effendim, bendeniz durfte 16 Jahre lang Hz. Tahir-ül Mevlevi’s Gnade erfahren und aus seinem Wissen und seiner Kenntnis Nutzen ziehen. Mein Lehrer Tahir-ül Mevlevi, der selber ein sehr geehrter ‚Mesnevihan’ war, sagte zu mir: „Du kannst nun das Mesnevi-Studium unterrichten, später wirst du meine Aufgabe übernehmen“. Mit dem Auftrag meines Lehrers haben wir mit diesem Dienst begonnen. Auch bendeniz suchte nach Menschen, die diese Arbeit nach mir weiterführen könnten. Mit zunehmendem Alter habe ich viele Schüler gesehen und viele Menschen kennen gelernt, Frauen und Männer… Schliesslich habe ich Nur Hanim kennen gelernt, die für diese Aufgabe am besten geeignet und am meisten begabt ist. Im „Mesnevi“ gibt es am Anfang des ersten Bandes einen Vers; er steht in diesen 18 Versen, die Hz. Mevlana eigenhändig geschrieben hat. Dieser Vers deutet auf die Eigenschaften hin, die ich bei Nur Hanim gefunden habe. Was sagt er in diesem Vers? – „Nicht jeder Mensch, der mir zuhört, versteht auch, was ich sage und hört mein Wehklagen. Damit er mich verstehen, damit er mich hören kann, möchte ich jemanden, der den Trennungsschmerz erlitten hat. Jemanden, der ein wundes Herz hat, einen empfindsamen Menschen, damit ich ihm meinen Schmerz und meinen Kummer erzählen kann“. Die in diesen Doppelversen durch den Mund der Ney beschriebenen Eigenschaften habe ich bei Nur Hanim gesehen. Deshalb habe ich meinen ‚Destar’, welcher für mich einen sehr grossen geistigen Wert  darstellt und sehr wichtig ist, sowie die Aufgabe des ‚Mesnevihans’ mit Zuversicht Nur Hanim übergeben. Da sie für diese Aufgaben würdig ist, bin ich der Stimme meines Gewissens gefolgt und habe Nur Hanim gebeten, diese grosse Verantwortung zu akzeptieren.

Warum haben Sie eine Frau einem Mann bevorzugt, um Ihren ‚Destar’ zu übergeben?

Effendim, bald werde ich 96 Jahre alt sein; lange Jahre hat meine Wenigkeit in ganz unmassgeblicher Weise versucht, Menschen nützlich zu sein. Mein grösster Wunsch war, das anvertraute geistige Gut, das ich von Hz. Tahir-ül Mevlevi übernommen habe, dem zu übergeben, dem es zusteht, bevor ich diese Welt verlasse. Bis in mein hohes Alter habe ich viele Menschen kennen gelernt. Ich unterrichtete auch viele männliche Schüler. Jahrelang habe ich mich auch mit ihnen beschäftigt. Damals konnte ich noch gut sehen und meine Ohren konnten noch gut hören. Von all meinen Schülern, um die ich mich bemühte, war keiner so sensibel, keiner so verständnisvoll wie Nur Hanim, deshalb habe ich das anvertraute Gut Nur Hanim übergeben. Heutzutage haben Männer und Frauen die gleichen Rechte – zudem stellte bendeniz fest, dass auch früher Frauen-Mesnevihans ausgebildet wurden. Ich bin nicht der erste, der einer Frau den ‚Destar’ übergibt. Ich habe im Buch von Sezai Kücük gelesen, dass früher Frauen-Mesnevihans auf dieselbe Weise ausgebildet wurden. Ich habe mit der Absicht, ihm dieses anvertraute Gut zu übergeben, Jahre lang in einen meiner männlichen Schüler viel Mühe investiert und versucht, ihn auszubilden. Nur Hanim habe ich erst später kennen gelernt. Ich erkannte, dass Nur Hanim, die ich neu kennen gelernt hatte, würdiger ist, dieses Gut zu übernehmen, als mein Schüler, den ich jahrelang auszubilden versucht habe. Ohne zu zweifeln habe ich mich sodann mit Zuversicht entschieden, dieser gnädigen Frau das anvertraute Gut zu übergeben. Ich bin von der Richtigkeit meines Entschlusses überzeugt. Mein Gewissen ist sehr beruhigt. Die Geschichte ist voller Beispiele: du denkst, du hättest nun vierzig Jahre in einer ‚Dergah’ gedient und erwartest deshalb gewisse Dinge… Doch nur der Besitzer weiss, was im letzten Moment wohin geht. Niemand hat die Kraft dagegen einzugreifen. Ich habe es schon einmal gesagt: es ist nicht wichtig, ob es ein Mann oder eine Frau ist, wichtig ist allein ein wahrhaftiges Herz… Was sagt Hz. Mevlana: „Wenn Mann und Frau eine Einheit werden – das, was zur Einheit wird, bist du. Wenn Tausende, welche die Traditionen hervorrufen, verschwinden, ist das Eine, was zurückbleibt, auch du“. Der Punkt liegt eben darin, diese Doppelverse wahrnehmen und fühlen zu können. Das hat weder mit Traditionen, Bräuchen, Sitten und Gewohnheiten etwas zu tun, noch ist es eine „Männer-Frauen-Sache“. Es hat nur mit Liebe etwas zu tun, es ist eine Herzensangelegenheit. Ich kenne das nur auf diese Weise und werde es nur auf diese Weise sagen.

Wir wissen, dass Sie zwei Töchter haben, warum haben Sie diese Aufgabe nicht ihnen gegeben?

Der hocherhabene Mevlana sagt: „Meine Verwandten, meine Freunde und Bekannten sind die Verliebten, ich habe weder Verwandte noch habe ich Familienangehörige ausser den Verliebten“. Indem er das sagt, gibt er für diejenigen, die es hören und fühlen, einen Hinweis auf gewisse Dinge. Eine ausführliche Antwort auf diese Fragen haben wir oben bereits gegeben. Diese Dinge, die geistigen Verantwortlichkeiten, können mit Verwandtschaft nichts zu tun haben.

Durch Gottes Gnade haben Sie das Alter von 96 Jahren erreicht. Was hat dieses Älterwerden von Ihnen genommen und was hat es Ihnen gegeben?

Effendim, ich hätte nie gedacht, dass ich so alt werden würde. Als Kind kam mir das Alter von vierzig Jahren als das höchste Alter vor. Ich konnte mir nicht vorstellen, vierzig Jahre alt zu werden. Ich wurde vierzig, fünfzig, sechzig, siebzig, achtzig, neunzig und erreichte schliesslich mein Alter. Bis zu diesem Alter habe ich viele Ereignisse gesehen und erlebt, war ich doch während des Ersten Weltkriegs bereits ein fünf- oder sechsjähriges Kind. So viele Jahre sind vergangen bis zu diesem hohen Alter. Ich staune, wenn ich zurückschaue… Gott hat vieles von mir genommen. Doch das, was Er mir durch Seine Gnade geschenkt hat, ist weit mehr. Deshalb danke ich Gott immer. Ich bin z.B. nicht blind, aber ich sehe nicht mehr so gut wie nötig. Ich bin nicht taub, doch kann ich nicht mehr alles genügend hören. Ich kann nicht alleine irgendwo nach draussen gehen. Ich kann nicht einmal eine Treppe alleine hinuntersteigen… Als Gott die Sicht meiner Augen genommen hat, gab es einen Schleier zwischen den Büchern und mir. Ich kann nicht mehr lesen. – Trotzdem beklage ich mich nicht über mein Leben. Ich bin sehr zufrieden über das Altsein. Trotz meiner Zufriedenheit, erinnere ich mich aber auch immer wieder an den Doppelvers von Ferit Kam; als Ferit Kam Mühe hatte, vom ersten Stock des bescheidenen Hauses von Hz. Tahir-ül Mevlevi nach oben zu steigen, rezitierte er mir, während er die Treppen bestieg, diese schönen Doppelverse:

Es ist eine unerträgliche Plage dieses Altsein.
Vor allem, wenn noch die Sorge um das tägliche Brot dazukommt.
Ich möchte diesen Respekt für mein Altsein nicht.
Meine Existenz gehört Dir, oh Herr.

Ich beklage mich nicht über das Altsein, das jetzt bei mir zu Gast ist; denn ein solches Ansehen, wie ich es in diesem Alter geniesse, habe ich in meiner Jugend nicht bekommen. Obwohl ich dessen nicht würdig bin, gibt es viele Menschen, die mich lieben. Obwohl ich dessen nicht würdig bin, gibt es viele Menschen, die mich respektieren. Durch Gottes Gnade habe ich noch mein Gedächtnis, so wie Er die Krümchen nicht berührt hat, die aus den gelesenen Büchern in meinem Gedächtnis geblieben sind, so kommen sogar noch die Formen der Bücher vor meine Augen. Deshalb beklage ich mich nicht. In diesem gebrochenen Zustand gehe ich immer noch jeden 15. Tag zum Kulturzentrum Kazim Karabekir Pascha und halte dort mit Hilfe von Nur Hanim Vorträge. Zudem ist Nur Hanim immer bei mir, sie ist mein Auge und mein Ohr. Wir arbeiten immer noch und bereiten Bücher vor. Meine Gefährtin sorgt mit einer väterlichen Güte für mich.
Mein Leben von 95 Jahren ist wie ein Traum vergangen. Das Glück und der Kummer dieser Welt – sind sie nicht auch wie ein Traum? Wie alt ich auch sein mag, ich möchte trotzdem leben. Ich habe den Genuss des Lebens in mir. Diesen legt Gott, den ich so sehr liebe, in das Herz des Menschen. Sogar in den Zeiten meiner grössten Lebenskrise wollte ich leben und noch ein wenig mehr leben. Ich kann Gott nicht mehr darum bitten mir noch mehr Zeit zu geben, deshalb sage ich zu meinen Freunden: „Betet ihr für mich, denn ich schäme mich vor Gott. Er hat mir bereits 96 Jahre gegeben. Er wird mir sagen, ‚Was willst du denn noch mein Geschöpf, schämst du dich denn nicht?’ “… Was ich damit sagen will ist, in welchen Schwierigkeiten der Mensch sich auch befinden mag, in welchem Alter er auch immer sein mag, am Ende verzichtet er nicht auf das Leben. Nun, es gibt allerdings eine Sache, die mich traurig macht. Wenn der Mensch älter wird, kann er seinen religiösen Pflichten Gott gegenüber nicht mehr genügend nachkommen. Gottesfreunde haben immer gesagt: „Oh Mensch, praktiziere den Gottesdienst während deiner Jugend und Kindheit. Erfülle deine Pflichten. Denke nicht: ich bin jung, ich kann es später machen. Denn wenn die Jugend vergeht und das Alter eintrifft, wird diese Aufgabe sehr schwer werden“. Damit warnten sie die Jugendlichen. – In der Tat gibt es Zeiten, wo ich Traurigkeit empfinde, weil diese Sache sehr schwierig geworden ist. – Aber trotzdem ist in mir die unauslöschliche Liebe geblieben, zu arbeiten und nützlich zu sein. Wenn ich zum Beispiel wüsste, ich müsste morgen sterben und wäre heute noch imstande zu sprechen, so würde ich bitten: „Oh, meine Brüder und Schwestern, macht dies so und jenes so… “

Was denken Sie über die Phantasiebilder von Hz. Mevlana?

Die Bilder von Hz. Mevlana, die wir kennen, finden sich in Büchern aus dem Iran wie auch in einigen Werken, die in Europa gedruckt wurden. Das sind Phantasiebilder; trotzdem zeigen sie die Identität von Hz. Mevlana soweit es möglich ist. Es sind Bilder, die das Äussere und Physische zeigen. Bendeniz hat in den Quellen keinen verlässlichen Hinweis auf eine andere wichtige Erläuterung gefunden. Das Bild zum Beispiel, auf welchem er die Gebetskette in der Hand hält, gilt als die älteste Darstellung. Man behauptet, dass das Bild von einem berühmten Maler gemacht wurde. Doch alle diese Bilder sind Phantasiebilder von Mevlana. Von vielen Heiligen, einschliesslich unseres Hz. Ali Effendi, gibt es solche Phantasiebilder. Doch das wahre Bild ist jenes, das den inneren Wert eines Heiligen zeigt, das heisst seine Seele – das Bild also, das seine Bedeutung widerspiegelt. Hz. Mevlana selbst hat dieses Thema im „Mesnevi“ angesprochen. Sie werden sehen, dass Mevlana sich selbst auch kennen lernen möchte, er möchte sein wahres Gesicht sehen. Er wundert sich auch darüber, wie er ist und wer er sei… Im „Mesnevi“ erzählt er darüber folgendes: „Wie ist es wohl möglich mein eigenes Gesicht zu sehen? Was für eine Farbe habe ich? Bin ich wie ein Tag oder wie eine Nacht? Ich habe das innere Gesicht, das Bild meiner Seele überall und dauernd gesucht. Doch dieses innere Gesicht, dieses Bild habe ich bei niemandem gesehen. Schliesslich fragte ich mich: wozu dient der Spiegel? Was für einen Nutzen hat er? Ist er nicht erschaffen worden, damit der Mensch sich sieht und kennt? Der Spiegel, der durch die Politur des Metalls hergestellt wurde, dient dazu Gesichter zu sehen, die sichtbar sind. Doch der Wert des Spiegels, der die Seele zeigt, ist sehr hoch. Unser Herzensspiegel ist das Gesicht unseres Geliebten“. – Aus diesen Doppelversen des „Mesnevi“ können wir verstehen, dass Mevlana möchte, dass nicht sein Äusseres, sondern sein Inneres, der wahre Mevlana, gesehen und erkannt wird. Bendeniz sieht Mevlana mit meinem Verständnis; so wie ich ihn mir vorstelle, sehe ich ihn in meinem Herzen. Sie sehen ihn so wie Sie sich ihn vorstellen. Das heisst, so wie wir die Menschen sehen, so finden wir die wahre Beschreibung der Heiligen auch in unseren eigenen Herzen.

Wir wissen, dass Mevlana das „Mesnevi“ nicht mit eigener Hand geschrieben hat, sondern andere haben es für ihn aufgezeichnet. Könnte es sein, dass Fehler gemacht- und falsche Dinge geschrieben wurden?

Wie man weiss schrieb Mevlana die 18 Verse am Anfang der sechs Bücher des „Mesnevi“ mit eigener Hand. Alle anderen Verse hat er seinem Schüler Hz. Hüsamettin Celebi diktiert. Jeden Abend zog sich Mevlana mit Hüsamettin Celebi in ein Zimmer zurück und rezitierte die Verse, die Hz. Hüsamettin Celebi dann aufschrieb. Nachdem diese Verse geschrieben waren, liess Hz. Mevlana sie am nächsten Tag Hüsamettin Celebi nochmals vorlesen. Beim Durchlesen liess er manche Stellen korrigieren indem Hüsamettin Celebi die Korrekturen am Rande des Heftes eintrug. So wurde das „Mesnevi“ weitergeführt. Von Zeit zu Zeit verzögerte sich die Vorbereitung des „Mesnevi“ aus verschiedenen Gründen. Dann wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Auf diese Weise wurde es jeden Tag und jede Nacht weiter geschrieben, manchmal dauerte dies bis zum Morgen. Die Niederschrift des „Mesnevi“ dauerte Jahre lang. Schliesslich wurden die sechs Bänder des „Mesnevi“ vollendet. Es ist unvorstellbar, dass Hüsamettin Celebi von sich aus gewisse Ergänzungen gemacht haben sollte. Die Verse sind gereimt, der Stil ist fliessend; wenn Sie mich fragen, hat Hüsamettin Celebi nichts von sich aus ergänzt, es gibt keine Fehler. Doch auch wenn er etwas ergänzt hätte, wäre es nichts anderes als die Widerspiegelung von Mevlanas Ansichten und Gedanken.

Hz. Mevlana hat es diktiert und Hüsamettin Celebi hat es niedergeschrieben. Kann es sein, dass später Zeilen und Gedanken anderer ins „Mesnevi“ eingefügt wurden?

Effendim, wie man weiss wurden die 18 Verse des „Mesnevi Scherif“ von Mevlana mit eigener Hand geschrieben. Alle anderen Doppelverse wurden von Mevlana diktiert und von Hüsamettin Celebi nieder geschrieben. Dieses Exemplar wurde später von anderen kopiert, und es entstanden infolge viele handschriftliche „Mesnevis“, die sich in der islamischen Welt verbreiteten. In ihnen gibt es manche Unterschiede. Diese Unterschiede können entstanden sein, weil ein Abschreiber in Begeisterung geriet und dem gleichen Versmass, das heisst dem Rhythmus ‚Failatün-failatün-failün’ folgend, irgendeinen Doppelvers leicht geändert hat… Doch diese Dinge beeinflussen das Wesen des „Mesnevi“ nicht. All das sollte uns nicht verwirren oder beunruhigen. Das Merkwürdige an der Angelegenheit ist jedoch Folgendes: Weil jeder Mevlana liebte, wurde – um die Menschen mit eigenen Gedanken zu beeinflussen – von jemandem ein siebter, nicht von Mevlana stammender Band, geschrieben. Diesen siebten Band hat der verstorbene Nahifi in poetische Form übersetzt und zusammen mit dem Original in Ägypten drucken lassen. Ich habe die Übersetzung von Nahifi wie auch den Originaltext gesehen. Dieser siebte Band ist eindeutig gefälscht. Er ist zwar im gleichen Versmass, ‚Failatün-failatün- failün’ abgefasst, doch er gehört nicht zu Mevlana. Er ist auch nicht im Stil Mevlanas geschrieben. Ausserdem gibt es dort einige Gedanken, die nicht dem Islam entsprechen. Daran sieht man, dass die Liebe für Mevlana ausgenützt wurde um diejenigen, die ihr Herz Mevlana geschenkt haben, vom Weg abzubringen… Nachdem Hüsamettin Celebi das „Mesnevi“ fertig gestellt hatte, schrieb Hz. Mevlana zu jedem Band des „Mesnevi“ eigenhändig ein Vorwort auf Arabisch. In diesen Vorworten stellte Mevlana jeweils das Werk vor. – Im Vorwort des fünften Bandes steht, dass die ‚Scharia’ ein Licht sei, um ‚Haqiqa’ zu finden. Sie sei eine Fackel; und wenn der Mensch auf dem Weg des Derwisch, in der ‚Tariqa’ also Richtung ‚Haqiqa’ gehe, ziehe er Nutzen aus der ‚Scharia’. Doch wenn er zu ‚Haqiqa’ gelangt sei, dann hebe er die ‚Scharia’ auf und werfe sie weg… Es gibt dort so einen Gedanken. Dieser Gedanke und dieses Vorwort gehören nicht zu Mevlana. Denn obwohl Mevlana und unser Prophet Effendi die „Haqiqa der Haqiqas“ erreicht haben, haben sie jeden Abend bis in den Morgen hinein gebetet. Sie haben sich allen Gesetzen der ‚Scharia’ unterworfen. Man hat nie gesehen, dass sie irgendein Gebet vernachlässigt hätten. Welches Gesetz der ‚Scharia’ haben unser Prophet und Mevlana, welche die  „Haqiqa der Haqiqas“ erreicht hatten, unterlassen? Sie waren durch das Gebet ausser sich und haben bis in den Morgen hinein gebetet. Kein einziger Heiliger verliess die ‚Scharia’, weil er ‚Haqiqa’ erlangt hatte. Diese Verfälschung im Vorwort des fünften Bandes ist aufgefallen, weil sich dieses Vorwort dadurch deutlich von den anderen Vorworten unterscheidet. Es ist somit offensichtlich, dass es von jemand anderem geschrieben wurde. Als die Angelegenheit untersucht wurde, hat man festgestellt, dass die Vorworte des ersten, zweiten, dritten, vierten und sechsten Bandes des „Mesnevi“ am Rande mit Goldverzierungen aus seldschukischer Zeit geschmückt waren, während im fünften Band diese Verzierungen fehlten… Auch hinsichtlich der Schrift war es unterschiedlich; es war offensichtlich, dass es von einem Kaligrafen aus einem späteren Jahrhundert geschrieben worden war. Es stellte sich also heraus, dass das originale Vorwort des fünften Bandes durch ein erfundenes Vorwort, das nicht von Mevlana stammte, ersetzt wurde. Ich bin der gleichen Überzeugung wie Abdülbaki Gölpinarli, der dieses Thema eingehend untersucht hat: das Vorwort zum fünften Band wurde später geschrieben, um die Menschen vom Weg abzubringen und von der ‚Scharia’ zu entfernen.

Es stellt sich also heraus, dass man vergeblich versucht hat, ins „Mesnevi“ gewisse Teile, die nicht von Hz. Mevlana stammen, einzufügen. Ist dies auch für den „Divan-i Kebir“ gültig?

In einigen Ausgaben, die an verschiedenen Orten gedruckt wurden, fügte man in den „Divan-i Kebir“ Gedichte von anderen ein. Dies gilt vor allem für den „Divan-i Kebir“, der in Indien gedruckt wurde. In diese Ausgabe wurden viele, von einer Person namens Shemsi Tabasi stammende erfundene Gedichte eingefügt. So wie Hidayet Han aus Iran eine Auswahl für einen Divan unter dem Namen Shemsi Tebrizi zusammenstellte. In dieser Auswahl stehen sowohl Teile von Mevlanas Gedichten als auch solche von Shemsi Tabasi. Es gibt darin also viele Gedichte, die nicht zu Mevlana gehören. Der Divan mit Namen „Auswahl aus dem Divan-i Kebir“ wurde zur Zeit Hasan Âli Yücels von Mithat Bahari Hazretleri ins Türkische übersetzt und durch das Erziehungsministerium in Form von drei Bänden publiziert. In dieser Auswahl stehen Gedichte, in denen Hz. Ali als Gott dargestellt wird. Es sind dies ebenso Gedichte, die nicht zu Mevlana gehören. Der iranische Universitätsprofessor Firuzanfer selig hat den „Divan-i Kebir“ auf schönste Weise und in hoher Auflage drucken lassen und damit den Menschen, den Liebenden Mevlanas und der Wissenschaft einen grossen Dienst erwiesen. Über die Gedichte, die er ausgesucht hat, gibt es keinen Zweifel. Der „Divan-i Kebir“, den er vorbereitet hat, ist der verlässlichste Divan und es ist wichtig und nötig, dass man diesen sehr beachtet. Aber weil jeder Mevlana liebt, versuchten manche Leute immer wieder, ihren eigenen verrückten Glauben dem Volk unter dem Namen Mevlanas einzuimpfen. Doch Mevlana steht über all diesem. – Mevlana ist absolut auf dem Weg Mohammeds, er ist wie Abdülkadir-i Geylani, wie Ahmedi Rifai, wie Shah-i Nakshibandi ein grosser Heiliger. Er ist ein Erbe unseres Propheten. Es ist unvorstellbar, dass Hz. Mevlana sich etwas aneignet, das dem Weg unseres Propheten und seinen Gedanken nicht entspricht.

Übersetzung Tülin Özgür, Bearbeitung Katharina Waldner und Birgit Kunz 13.2.2007