Licht über Licht

Licht über Licht (Januar 2015 in München)

(Referat von Peter Hüseyin Cunz) 

 

Licht wird in allen Religionen als Symbol für Gott und Seine Kräfte verwendet, sowie für die bildliche Darstellung von Gegensätzen zwischen Wünschbarem (Licht) und Verwerflichem (Dunkelheit). Auch in der Dichtung der Sufis wird das Licht in allen Variationen verwendet, vom unerschaffenen Licht Gottes bis hin zur Philosophie der Erleuchtung Umar Suhrawardis, dem offiziellen Sufi-Meister von Bagdad im 13. Jahrhundert. Das Thema ist umfangreich, und folglich konzentriere ich mich auf einzelne Bilder über das Licht bei den Sufis, die mir besonders interessant und lehrreich scheinen.

Ein beliebtes Bild ist der Nachtfalter, der in Sehnsucht nach dem Licht um die Kerze flattert. Doch wenn er dem Licht zu nahe kommt, verbrennen seine Flügel. Dieses Bild wurde erstmals von Husain ibn Mansur Halladsch (gest. 922) verwendet. Es erinnert an Moses (Friede und Segen für ihn), der in seinem Begehren, Gott zu schauen, an eindeutige Grenzen stiess.

Oder da gibt es das Bild vom Dummkopf, der des Nachts ins Wasser schaut und glaubt, dort den Mond zu sehen, weil des Mondes Widerspiegelung sichtbar ist. Wir können die Nacht und die Widerspiegelung des Lichts als Symbol für diese Welt der Erscheinungen sehen. Wir werden aufgefordert, mit der uns geschenkten Vernunft nach dem Hintergründigen zu suchen, also den Kopf zu erheben und den wirklichen Mond zu schauen. Wir lernen, dass alles, was in dieser Welt als real erscheint, nur eine Widerspiegelung dessen ist, was in der anderen Welt als Original schon existiert. Und haben wir dies mal erkannt, dann bleibt noch zu erfahren, dass das echte Mondlicht auch nur eine Widerspiegelung des Sonnenlichtes ist.

Oder wir lesen die vielen mystischen Gedichte von Celaleddin Rumi, wo das Licht als Symbol immer wieder erscheint. Für seine engsten Gefährten Shams von Täbris und andere verwendet er oft das Symbol der Sonne. Und von sich sagt er bescheiden, er sei ein Stern, der am Himmel seiner Bahn nachgeht, und damit den Wanderern als Wegweiser dient. Doch wenn die Sonne kommt, geht sein eigenes Licht in der Überflutung unter.

Die Hauptreferenz zur Verwendung des Lichtes in der bildlichen Beschreibung des islamischen Pfades ist der berühmte Lichtvers im Koran:

Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist gleich einer Nische, in der sich eine Lampe befindet; die Lampe ist in einem Glas gleich einem flimmernden Stern. Es wird angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum, weder vom Osten noch vom Westen, dessen Öl fast leuchtete, auch wenn es kein Feuer berührte – Licht über Licht! Gott leitet zu Seinem Licht, wen Er will, und Gott macht Gleichnisse für die Menschen, und Gott kennt alle Dinge.
(Koran 24:35, Gemäss der Übersetzung von Max Henning)

 

Die bekannteste Schrift, die sich diesem Bild des Korans widmet, ist eine späte Schrift des berühmten Gelehrten Abu-Hamid Muhammad al-Ghazali (gest. 1111) mit dem Titel „Die Nische der Lichter“ (mishkât al-anwâr). Darin wimmelt es von theologischen und philosophischen Themen und Erläuterungen, von denen ich nur einige herauspicke:

  • Nach seiner Einleitung beginnt Ghazali gleich mit folgender Aussage:
    Das wahrhaftige Licht ist der erhabene Gott, und die Anwendung des Begriffs „Licht“ auf anderes ist eine reine Metapher und hat keine wahre Bedeutung.
  • Dann unterscheidet er drei Bedeutungen des Licht-Begriffs. Die erste sei bei der ungebildeten Masse, für die das Licht an sich selbst sichtbar ist und durch sich anderes sichtbar macht. Die zweite Bedeutung ist bei den Gebildeten und die dritte bei den Auserwählten unter den Gebildeten. Die Gebildeten sind jene, die sich der Vernunft bedienen. Aber auch die Vernünftigen können durch Einbildungen, Wahnvorstellungen und falsche Lehrmeinungen Überlegungsfehler begehen. Nur die von Gott Auserwählten sehen mit Gewissheit die Wirklichkeit.
  • Sinnlich Wahrnehmbares ist Teil der Welt der Erscheinungen, ein Begriff, den Ghazali weiter vertieft. Er meint damit die Welt, welche wir mit den Sinnen erkennen. Und er sagt:
    Die Welt der Erscheinungen (das Diesseits) ist eine der Wirkungen jener Welt (dem Jenseits), deren Verhältnis zu ihr wie das Verhältnis des Schattens zur Person, der Frucht zum Fruchtbringenden und der Wirkung zur Ursache ist.
    Damit gibt Ghazali zum Ausdruck, dass diese Welt der Erscheinungen gar nicht existieren würde, wenn das Hintergründige, die andere Welt nicht wäre. Da bin ich an ein Bild erinnert, das in Sufi-Kreisen kursiert:
    Der Schatten sprach zum Baum: „Geh mir aus dem Weg, du stehst mir im Licht!“
  • Ghazali geht dann in die Details der unterschiedlichen Betrachtungsweisen, Stufen und Bedeutungen des Lichts und des Symbolismus. Er sagt:
    Es gibt nichts in dieser Welt, das nicht Symbol für etwas wäre, was in jener Welt existiert.
    Und er endet mit einem Epilog über die Finsternis und die unterschiedlichen Verhüllungen.

 

Damit habe ich Ihnen schon einiges Essentielles angedeutet, allerdings in konzentrierter Form. Lassen Sie mich dies in den Worten Rumis und meinen etwas verdeutlichen und damit ein paar Elemente der islamischen Mystik erläutern.

  • Der Islam versteht sich als Fortsetzung der prophetischen Tradition des Judentums und Christentums. Auch für den Islam gilt Genesis 1:3:
    Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis, …..
  • In diesen monotheistischen Religionen gilt die Vorstellung über ein Diesseits und ein Jenseits. Gemäss den Lehren der Sufis sehnt sich das Diesseits nach Verbindung mit dem Jenseits, und das Jenseits sehnt sich nach Realisierung durchs Diesseits. Rumi sagt:
    Der Durstige stöhnt: „O köstliches Wasser!“ Auch das Wasser stöhnt und sagt: „Wo ist der Wassertrinker?“
    (Mesnevi 3:4397)
  • Woher kommt das ursprüngliche Licht, von dem wir normale Menschen nur den Widerschein des Widerscheins erkennen? Wo sitzt dieser Gott? Rumi sagt:
    Die Nahrung der Sonne kommt vom Licht des Thrones; die der Neidischen  und Teuflischen vom Rauch der Erde. (Mesnevi 2:1088)
    Wo ist dieser Thron? Der Thron Gottes (‚arsch) hat gemäss eines göttlichen Prophetenwortes (hadith qutsi) seinen Ort im Herzen des Menschen. Wenn der Mensch zum Diener Gottes wird, kann Gott Sich in sein Herz setzen. Das Herz des Gottesdieners ist der einzige Ort, an dem Gott in Seiner eigenen Schöpfung für Sich genügend Platz findet.
  • Der eigentliche Weg zu Gott besteht darin, sich aus der Gefangenschaft des Diesseits zu befreien. Diese Befreiung beginnt als Erstes mit der Erkenntnis, dass eine andere Welt existiert – das Jenseits, die hintergründig in allen Lebensumständen ständig erfahrbar ist.  Der Koran macht das deutlich unter anderem mit dem bei den Sufis viel zitierten Vers 2:115:
    Und Gottes (Allahs) ist der Westen und der Osten, und wohin ihr euch daher wendet, dort ist Gottes Angesicht.
  • Haben wir mal das Zusammenspiel der zwei Welten erkannt, wird uns bewusst, dass unsere Sinneserfahrung und jegliche Beschäftigung mit dieser Welt der Erscheinungen lediglich ein Schatten der Wirklichkeit ist. Ich zitiere nochmals Rumi:
    Wie kann das reiterlose Pferd die Strassenschilder kennen? Der König wird gebraucht, damit es die Strasse des Königs findet. Bediene dich eines Sinnes, auf dem das Licht reitet; dieses Licht ist ein guter Gefährte für den Sinn.
    Das Licht Gottes ist ein Schmuck für das Licht des Sinnes; das ist die Bedeutung von Licht über Licht.
    Das Licht des Sinnes zieht zur Erde; das Licht Gottes trägt empor, …..
    Da du das Licht des Sinnes mit deinem Auge nicht siehst, wie könntest du mit deinem Auge das Licht des Gläubigen sehen?
    (Mesnevi 2:1293-1300)
  • In der Praxis der islamischen Mystik (des Sufismus) hat die Vernunft einen hohen Stellenwert. Sie soll uns begleiten in der Entscheidung, auf einen spirituellen Pfad zu gehen, und sie soll ständig das Förderliche vom Unnützen oder Gefährlichen unterscheiden. Ghazali, der als wichtige Referenz sowohl bei orthodoxen Muslimen als auch bei Sufis gilt, sagt das deutlich, wenn er – wie erwähnt – die ungebildete Masse von den Gelehrten und Auserwählten unterscheidet. Sind wir einmal mithilfe der Vernunft und im geschützten Rahmen auf einem Erfolg versprechenden Weg vorwärts gekommen, kann der Schritt über die Grenzen des eigenen Begreifens gewagt werden. Da beginnt die Zeit, wo die Vernunft zeitweise zurückstehen soll. Aber dies soll erst dann geschehen, wenn die Basisarbeit gemacht wurde, wenn wir ein erstes Stück des Weges hinter uns gebracht haben.
  • Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht: wir alle sehnen uns nach Gottesnähe. Wer das bewusst tut weiss, dass in Wirklichkeit er oder sie nicht allein ist im Streben nach Einheit mit Gott, sondern dass auch Gottes Kräfte im Jenseits ständig sich uns nähern wollen. Darum steht im Zentrum der spirituellen Arbeit das Bereiten der Seele zum Gefäss, das für den Geist Gottes empfänglich und eines göttlichen Gnadenaktes würdig ist. Solange wir voller Gedanken und Emotionen sind, genährt vom Bestreben, etwas Bestimmtes zu erreichen, fehlt die notwendige Haltung und Leere, um für den Geist Gottes attraktiv zu sein. Zentral in der Sufi-Praxis ist das Wegwischen allen Unrates, wie unnütze Gedanken, Vorstellungen und Sentimentalitäten, die oftmals genährt sind von Nostalgie, Hoffnungen und Ambitionen, die ihrerseits aus der Sehnsucht der Seele entstehen, gesehen und anerkannt zu werden. Der berühmte christliche Mystiker Meister Eckhart soll gesagt haben: Tue zur Seite alles, was nicht Gott ist, und dann bleibt nur noch Gott übrig. Genau das ist die Bedeutung von La ilaha il-Allah, der ersten Hälfte des islamischen Glaubensbekenntnisses, das bei allen Sufis im Ritual des Gottesgedenkens (dhikr) sowie im Alltag häufig repetiert wird.
  • Nun, was passiert, wenn wir beginnen, den weltlichen Unrat aus unnützen Gedanken, Sentimentalitäten und Trieben zu beseitigen? Wir erreichen stufenweise einen Zustand der Leere, des Leer-seins, um für das Jenseits, durch das der Geist Gottes wirkt, empfänglich zu sein. Leere bedeutet einen Zustand ohne Selbstkontrolle, was uns nur möglich ist, wenn wir uns vollkommen geschützt fühlen. Und da wird der Sinn einer religiösen Gemeinschaft deutlich. Der Ritus unter Gleichgesinnten offeriert den schützenden Rahmen, innerhalb dessen das teilnehmende Individuum sich selbst vergessen darf, ohne dabei in eine gefährliche Grenzüberschreitung zu geraten.

Lassen Sie mich nun noch ein anderes spezifisches aber wesentliches Element des Lichtes in der islamischen Praxis erwähnen. Es ist die Vorstellung vom Licht Mohammeds (Friede und Segen sei mit ihm), das in Sufi-Kreisen schon im 9. Jahrhundert, also 200 Jahre nach dem Tode Muhammads entwickelt wurde. Der arabische Ausdruck hierfür ist nuri Mohammadi. Ich will das kurz vorstellen, da es auch unter Muslimen kontrovers gesehen wird.

  • Die Liebe der Muslime zu ihrem Propheten ist stark, etwa so wie die Liebe der Christen zu Jesus (Friede und Segen sei mit ihm). Das Bedürfnis, auch im islamischen Propheten eine Nähe zu Gott zu sehen, wie der Christus für die Christen, ist verständlich. So trifft man auf Berichte, die Details über die berühmte Himmelfahrt (mi’raj) Mohammeds beschreiben. Mohammed soll himmlische Höhen erreicht haben, die weder Jesus noch der Engel Gabriel zu erreichen vermochten. Nach seiner Rückkehr in die Welt des Diesseits soll er gesagt haben: „Das erste, was Gott schuf, war mein Geist. ….. Ich war Prophet, als Adam noch zwischen Lehm und Wasser war.“ Und ein ausserkoranisches Gotteswort (hadith qudsi) lautet: „Wärest du (Mohammed) nicht, so hätte Ich die Himmel nicht geschaffen.“
  • Die Vorstellung vom ursprünglichen Mohammed in Form von Licht führt auch zur Annahme, dass die Hingabe zum Scheich, der ein Abglanz dieses Lichtes ist, zum Entwerden im Propheten (fana fi Rasul) führt, und weiter letztendlich zum Entwerden in Gott (fana fi Allah). Der Weg also vom kleinen Licht zum grossen Licht, im Gewahrsein von Licht über Licht.
  • Aus solchen und weiteren Überlieferungen wird von manchen Muslimen im Propheten Mohammed nicht nur der nachzuahmende vollkommene Mensch gesehen, sondern ebenso die Begründung der gesamten Schöpfung. Da protestieren jene muslimischen Gelehrten, die eine Gottesvertretung als unzulässig betrachten und sich so von den Christen unterscheiden wollen. Im Diskurs unter Muslimen herrscht über dieses Thema Uneinigkeit.
  • In mehreren Sufi-Gemeinschaften wird das Lichtgebet rezitiert, das Mohammed selbst gebetet haben soll und das auch wir in unserem Orden verwenden. Gott wird darum gebeten, Licht in unser Herz, in unsere Augen, in unsere Sinne und in unser Fleisch und Blut zu setzen. Die Tatsache, dass der Prophet mit diesem und anderen Gebeten seine Bedürftigkeit ausdrückte, gibt den moderaten Vorstellungen Gewicht, die in jedem Propheten den Menschen sehen, der trotz seiner eigenen Unzulänglichkeiten von Gott auserwählt wurde.

Nun komme ich nochmals zurück auf Ghazalis „Die Nische der Lichter“, wo er eine Warnung denen gegenüber ausspricht, die in die höchsten Höhen des Spirituellen gelangt sind. Ich zitiere:

Der Vollkommene ist derjenige, dessen Licht der Erkenntnis das Licht seiner Frömmigkeit nicht auslöscht. Du siehst also, dass der Vollkommene bei all seiner Scharfsinnigkeit es sich nicht erlaubt, auch nur eine einzige der göttlichen Verordnungen zu übertreten.

Was bedeutet eine solche Aussage in der heutigen Welt? Ich sehe das folgendermassen:

  • Zum einen können wir mit etwelchen spirituellen Praktiken erstaunliche Höhen erlangen bis hin zu Erleuchtungen (Licht!) und wundersamen magischen Geschehnissen. Dies sind jedoch erst Belege für die Verbindung zur anderen Welt. Im Wissen, dass die andere Welt nicht nur das Zuhause der Engel ist, sondern gleichfalls der Ort, wo die satanischen Kräfte auf Möglichkeiten warten, sich in dieser Welt der Erscheinungen zu manifestieren, sollten wir wundersame Ereignisse noch nicht als Referenz für einen Schritt in Richtung Gott betrachten.
  • Aus meiner Sicht ist es wichtig, das zu verstehen. Bedenken wir doch, was für Unfug in etlichen Sekten betrieben wird! Wir brauchen nur die Berichte der Sektenberatungen zu lesen. Wie viele Menschen in dieser Welt lassen sich von charismatischen Gestalten und zauberhaften Ereignissen  verleiten und in emotionale Gefangenschaft nehmen!
  • Die Frömmigkeit, die Ghazali fordert, hat nichts mit Sentimentalität zu tun. Sie ist auch in der heutigen Zeit von Relevanz, denn sie weist auf ethische Grundsätze und Regeln hin. Eine Spiritualität, die sich nicht an ethischen Werten misst, darf nicht ernst genommen werden.

Auch Rumi, der viele Gedichte und Verse diktiert und verfasst hat, die in der heutigen Zeit sehr ansprechend wirken, drückt seine Hingabe zum islamischen Propheten aus:

Solange ich lebe, bin ich der Diener des Korans, bin die Erde, auf die der heilige Mohammed getreten ist. Wenn jemand meinen Worten eine entgegengesetzte Bedeutung zuschreibt, mich auf eine andere Weise kennt, beklage ich jenen, der die Worte gesagt hat und die Worte selbst.
(Vierzeiler von Hz. Mevlana, Ruba’iyat nach Foruzanfar: Ruba’i 1173, übersetzt von Sefik Can Efendi)

Wir haben jetzt etwas philosophiert und über Zustände gesprochen, die nicht wirklich beschreibbar sind. Wir sind wie der Nachtfalter, der um die Kerze flattert, im Begehren nach Licht über Licht. Und wenn er dem Licht zu nahe kommt, verbrennen seine Flügel.

Und bald gehen wir auseinander in den bekannten Alltag. Ja, und vielleicht fragen Sie sich zuhause, was nun dieses angehörte Wissen für unser alltägliches Leben bringt, wenn wir selbst noch keine lichtvollen Zustände erreicht haben. Nicht wahr, es ist manchmal zum Verzweifeln, wenn wir über die edlen Erlebnisse der Heiligen lesen und anschliessend den Blick auf uns selbst werfen! Tatsache ist, dass es den wenigsten vergönnt wird, „Licht über Licht“ in einem Masse zu erleben, das als ausserordentlich taxiert wird. Lassen Sie mich darum zum Schluss nochmals Rumi zitieren:

Wird Gott meinen unreifen Trauben eine Vollkommenheit wie die der reifen Traube geben, trotz meiner Unfähigkeit und Ferne zu Ihm?
Ich sehe nirgendwo Hoffnung, doch Gottes Güte sagt zu mir: „Verzweifle nicht!“ (Koran 12:87)
Auch wenn wir verzweifelt im Abgrund sitzen, lasst uns tanzen gehen, denn Er hat uns eingeladen.
Lasst uns tanzen wie flinke Pferde, die zu ihrer vertrauten Weide galoppieren.
Lasst uns die Füsse heben, obwohl keine Füsse da sind; lasst uns den Kelch austrinken, obwohl kein Kelch da ist.
Denn dort sind alle Dinge geistig; das ist Wirklichkeit über Wirklichkeit über Wirklichkeit.
Die Form ist der Schatten, die Wirklichkeit ist die Sonne. Schattenloses Licht gibt es nur in Ruinen.
Wenn kein Ziegelstein mehr auf dem andern liegt, wirft das Mondlicht keinen hässlichen Schatten mehr.
Selbst wenn der Ziegel aus Gold ist, muss er weggenommen werden, denn der Ziegel ist der Preis für Eingebung und Licht.
(Mesnevi 6:4740-4749)

Das Bestreben der Sufis ist also, zu Ruinen zu werden, die keine Schatten mehr werfen. Sie können mir glauben: „Licht über Licht“ zu schauen und „Wirklichkeit über Wirklichkeit“ zu erleben ist nicht etwas Angenehmes! Die wenigen Menschen, die solches bezeugten und auch heute erleben, erfahren dies mit einem enormen Leidensdruck, insbesondere wenn es überraschend kommt. Die eigene Seele mit allem, was uns das Gefühl der menschlichen Selbstbestimmung gibt, wird vom Licht überflutet. Es ist eine Blendung der Seelensubstanz und damit ein Auslöschen des Identität-bildenden Ichgefühls, das nur noch einer Ruine gleicht. Bei Menschen, die noch keinen religiösen Weg der Vorbereitung hinter sich gebracht haben, kann eine solche Erleuchtung grosse Ängste erzeugen. Wer noch nicht zur Ruine geworden ist, wird in der Erleuchtung kein schattenloses Licht erleben, sondern mit gewaltigen dunkeln Schatten konfrontiert sein.

Darum – und damit will ich enden – soll unser Begehren nicht im Erleben aussergewöhnlicher Ereignisse sein, sondern vor allem im Ausbau dessen, was Ghazali die Frömmigkeit nennt. Dieses Wort mag heute altmodisch tönen, doch aufrichtige Frömmigkeit führt uns zur Gewissheit, dass die Schöpfung so ist, wie sie von den Propheten und Heiligen beschrieben wurde. In authentischer Frömmigkeit können wir in klein scheinenden Dingen „Licht über Licht“ im Alltag erleben. Ein Funken der Augen des Kassiers im Supermarkt; der Dank einer Person, der wir etwas schenken; der Polizist oder Beamte, der auch bei Beschimpfungen treu und ruhig an seinem Gesetzesauftrag festhält; ein Schmetterling, der unerwartet sich auf unseren Arm setzt; eine Landschaft, die uns an etwas Besonderes erinnert; unendlich sind die Möglichkeiten, in dieser Welt der Erscheinungen das Hintergründige zu erkennen.

….. und wohin ihr euch daher wendet, dort ist Gottes Angesicht!

 

Die Zitate Ghazalis sind entnommen aus „Die Nische der Lichter“, ins Deutsche übersetzt von ‚Abd-Elsamad ‚Abd-Elhamid Elschazli und herausgegeben vom Felix Meiner Verlag, Philosophische Bibliothek, Hamburg.

Zitate aus dem Mesnevi mit freundlicher Genehmigung durch die Übersetzergemeinschaft Bernhard Meyer, Kaveh und Jilla Dalir Azar.