Die Sufi-Lehre vom Ich (Mai 2015)

(Peter Hüseyin Cunz, Dortmund, 8. Mai 2015 zum Thema „Wer bin ich?“ – Evangelisches Erwachsenenbildungswerk Westfalen und Lippe e.V.)

 

Wenn ich von einer Sufi-Lehre spreche, so spreche ich gleichzeitig vom Islam. Denn Sufismus ist eine Art, den Islam zu verstehen und zu leben. Sufismus ohne Islam gibt es nicht. Jedoch dürfen wir und – angesichts des Weltgeschehens – sollen wir uns fragen, was Islam ist.

Das arabische Wort islam bedeutet die Hingabe an den einen Gott. Es wird an einigen Stellen des heiligen Korans erwähnt im Sinne, dass die einzige richtige Religion bei Gott die Hingabe an Ihn ist (z.B. im Vers 3:19). Der heilige Koran spricht auch an einigen Stellen von Muslimen, also von Menschen, die allein den letztendlichen Gott preisen und nur Ihm dienen. „Der Islam“ als Name einer Weltreligion gab es zur Zeit der Offenbarung noch nicht. Es ist also falsch und fatal, wenn in vielen Koranübersetzungen der Vers 3:19 übersetzt wird mit „Siehe, die Religion bei Allah ist der Islam“. Dadurch stellt sich jede Person das vor, was sie vom Islam zu sehen oder verstehen glaubt.

Solange der Prophet der Muslime lebte, bestimmte er darüber, was rechtens war. Nach seinem Tod wurde es dann aber schwierig, denn ein Nachfolger (Kalifat) war nicht bestimmt. Die Streitigkeiten um die Deutungshoheit und die politische Führung der Muslime begannen sofort, und mit daher kam die Verwendung des Namens „Islam“ für die Gläubigkeit der Muslime. Die Feindschaft unter Muslimischen Stämmen führte zur erste grosse Abspaltung zwischen Sunniten und Schiiten, welche mit der Ermordung von Imam Hüseyin (Friede sei mit ihm) durch sunnitische Streitkräfte im Jahre 680 definitiv besiegelt wurde. Dies geschah schon 48 Jahre nach dem Tode des Propheten. Unter diesem Problem leidet die Welt noch heute.

Die Politisierung des islamischen Glaubens provozierte Reaktionen durch die ersten islamischen Mystiker im 8. Jhd., welche sich gegen die Instrumentalisierung der Religion stemmten. Sie wurden Sufis genannt, vermutlich weil sie sich in einfache Wollkleidung hüllten. Arabisch bedeutet suf Wolle.

Sufismus ist nicht etwa ein liberaler Islam. Es gibt sehr eng und streng gläubige Sufis, die im Äusseren auffallend orthodox erscheinen, und es gibt Sufis, die sich auch dem Schönen wie Musik, Kunst und Tanz bedienen. Der Sufismus als Ganzes ist ein Zeugnis der vielen möglichen Gesichter des Islam.

Die Sufis beschäftigen sich auch mit der menschlichen Psyche. Woher kommt das Ichgefühl des Menschen, was sind die Eigenschaften des Menschlichen und wie kann es für die Hingabe an Gott überwunden werden? Und damit sind wir im Thema unseres Referates. Ich beginne mit der Schöpfungsgeschichte, wie sie in Sufi-Kreisen verstanden und erzählt wird:

Allah erschuf Adam aus Lehm und hauchte ihm Leben ein. Dann rief Er die Engel zu Sich und erklärte ihnen, dass der Mensch das höchste Geschöpf sei. Und Er befahl ihnen, dies zu bezeugen und sich vor Adam niederzuwerfen. Ein Engel weigerte sich. Allah fragte ihn, warum er sich nicht vor Adam niederwerfe. Der Engel antwortete: „Du hast gesagt, wir dürften uns vor niemandem niederwerfen ausser vor Dir.“ Darauf antwortete Allah: „Du bist fürwahr der stärkste unter den Engeln, du sollst mein Widersacher werden, denn ohne Widersacher kann ich die Schöpfung nicht vollenden.“ So wurde dieser Engel zum Satan. Als Erstes verführte Satan Adam und Eva dazu, die verbotene Frucht vom Baum zu essen. Sie waren beide in die Irre geführt worden, baten um Verzeihung, und Allah verzieh ihnen.

Gemäss islamischem Verständnis erhebt Gott den Menschen zum eigentlichen Zweck der Schöpfung und setzt damit ein Fundament für eine humanistische Sicht. Es ist auch nicht Eva, die Adam verführte, sondern beide wurden irregeleitet. Ihr Handeln war Teil des Schöpfungsaktes; es wird nicht als Ursprung einer Erbsünde gesehen. Jeder Mensch wird unschuldig geboren und kann erst im Laufe seines Lebens Schuld auf sich laden.

Was macht den Menschen so besonders, dass er im Zentrum der Schöpfung steht und den eigentlichen Schöpfungszweck darstellt? Es ist seine Fähigkeit des Reflektierens und sein Besitz eines Ich-Gefühls mit eigenem Willen. Mithilfe der Aneignung einer Identität versucht er, eine Stabilität zu finden. Der Mensch hat die Fähigkeit, sich als Individuum zu fühlen, doch damit entsteht der Wunsch, besonders und eigenständig zu sein. Dies bleibt ein frommer Wunsch, solange dafür keine Bestätigung erfolgt. Daher lebt der Mensch in ständiger Sehnsucht, gesehen und anerkannt zu werden.

Gemäss dem Verständnis der Sufi besteht die Schöpfung aus zwei Welten. Einerseits ist da die uns bekannte Welt der Erscheinungen, das Diesseits, was mehr ist als die Vorstellung einer „materiellen Welt“. Andererseits muss notwendigerweise dazu ein Gegenstück existieren, was wir das Jenseits nennen. Ich nenne das Jenseits gerne „das Hintergründige“, das immer mit dem Vordergründigen in Verbindung steht. Wenn wir das berühmte Gedicht „Es war einmal ein Lattenzaun, …“ von Christian Morgenstern zu Hilfe zu nehmen, können wir sagen, diese Welt der Erscheinungen ist wie

„ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum,
hindurch zu schaun“.

Ein Vers im Koran, auf den sich die Sufis gerne beziehen, lautet: „Wohin ihr euch auch wendet, dort ist Gottes Angesicht“ (2:115). Hinter allen Erscheinungen existiert etwas Hintergründiges. Sowohl das Gute als auch das Böse , sowohl die Engel als auch die Teufel beherrschen das Jenseits und schimmern durch den „Lattenzaun“ ins Diesseits.

Der Weg des Menschen ist nicht etwa von dieser Welt in die andere, also nicht in Richtung Ekstase und Erleuchtung, sondern mit einem Fuss in dieser und dem anderen Fuss in der anderen Welt. Der Mensch ist die Schnittstelle, das Bindeglied zwischen den zwei Welten, und ihm wurde die Kapazität geschenkt, dies nicht nur zu erdulden, sondern auch ein weites Stück mit Hilfe seines Ichs zu ertragen. Es ist im Menschen, wo das Diesseitige, das an die Zeit gebundene Materielle und Feinstoffliche mit dem jenseitigen zeitlosen Geistigen in Verbindung tritt. Unsere Seele (nafs) besteht aus feinstofflicher Substanz und ist das Bindeglied zwischen dem Erlebten in dieser Welt und dem nicht stofflichen Geistigen (ruh) in der anderen Welt. Und wichtig ist zu bedenken, dass es das Geistige des Jenseits ständig nach Verwirklichung im Diesseits drängt. Die Geister des Jenseits – ob gut oder böse – suchen nach Seelen, die für ihre irdische Verwirklichung offen sind.

Wie stellen sich die Sufis die Seele vor? Sie ist eine feinstoffliche Substanz, welche als Träger der Eigenschaften des Lebens, der Sinne und der willentlichen Handlungen wirkt. Damit liefert sie auch die Basis für ein Ich-Gefühl. In der Literatur finden wir meistens ein vier- oder sieben-stufiges Modell. Ich bevorzuge das vier-stufige Modell, das mir weniger spekulativ vorkommt als das sieben-stufige. Jede Stufe hat ihre Licht- und Schattenseite, und alle Stufen entwickeln sich parallel und nicht etwa hierarchisch nacheinander. Unser Ordensgründer, Celaleddin Rumi sagte in einem seiner Lehrverse:

Die Seele (nafs) hat Gotteslob auf der Zunge und den Koran in der rechten Hand;
(doch) in ihrem Ärmel steckt Dolch und Schwert. (Mesnevi 3:2524)

 

Erste Stufe: Die befehlende Seele (nafs al-ammare)

Diese wird oft als Quelle des Übels gesehen, was aus meiner Sicht zu kurzsichtig ist, da, wie wir sehen werden, jede Stufe ihre Schattenseite hat. Die „befehlende Seele“ fasst unsere vegetativen und tierischen Eigenschaften zusammen. Dazu gehören der Selbsterhaltungstrieb mit der Nahrungsaufnahme und dem Arterhaltungstrieb, sowie der Wunsch nach Sicherheit und der Drang nach Wohlstand. Bei Nichterfüllung oder Gefahr reagiert diese Stufe reflexartig und unbewusst mit Zorn, Feindseligkeit oder Wetteifer. Eine übermässige Freiheit dieser Seelenstufe öffnet die Tore zur Gier und bewirkt Habsucht, Geiz, Neid, Wollust und den Drang nach Sättigung.

Was ist der Sinn dieser Stufe?

Diese Seelenstufe ist unsere Basis für Arbeits-, Willens- und Leistungsfähigkeit. Sie ist die direkte Verbindung zu unserem Körper und dem materiellen sowie emotionalen Ausdruck anderer, und sie ist beeinflussbar von Signalen aus unserer zweiten Seelenstufe.

 

Zweite Stufe: Die lamentierende Seele (nafs al-lawwame)

Hier drückt sich die Fähigkeit des Reflektierens aus, was „Verstand“ genannt wird und den Menschen vom Tier unterscheidet. Mit dieser Seelensubstanz ist der Mensch fähig, seine Situation zu ermessen, zu vergleichen, und er kann Wissen anzuhäufen. Er ist fähig, sich ein Bild zu machen über Richtiges und Falsches, über Gut und Böse. Auf dieser Stufe entwickelt der Mensch das Bedürfnis nach eigenständiger Identität, nach Besitzstand und Selbstbestimmung. Bei Unzufriedenheit tendiert er zu allen Varianten des Konkurrenzdenkens mit der selbstverständlichen Beschuldigung anderer. Funktioniert das nicht, dreht er den Spiess um und sucht nach Aufmerksamkeit durch Selbstbeschuldigung oder durch auffallende Unterwürfigkeit. Neid, verbaler Kampf, Heuchelei, Ärger, Bosheit, Stolz und Prahlerei gehören ebenso zu den negativen Eigenschaften dieser Seelenstufe, wie die übermässige Gesetzestreue und Paragraphengläubigkeit, die übermässige Verpflichtung zu religiösen Geboten, oder die Enthaltsamkeit und Askese.

Was ist der Sinn dieser Stufe?

Diese Seelenstufe ist unsere Basis für klaren Verstand und entwickelte Vernunft. Damit sind wir befähigt worden, zu mittelbaren Erkenntnissen zu gelangen. Solche Erkenntnisse sind wertvoll, aber im Gegensatz zu unmittelbaren Erkenntnissen (siehe nächste Stufe) beschreiben sie lediglich subjektive Wahrheiten innerhalb der Grenzen des Begreifens. Diese zweite Seelenstufe nimmt emotionale und mentale Signale von anderen Menschen auf und lässt sich ganz stark von der Befindlichkeit der ersten Seelenstufe beeinflussen.

Mit dem soweit Gesagten ist auch klar, dass die ersten zwei Stufen der menschlichen Seele den Grossteil der Forschung, Philosophie, Theologie, Politik und des Wirtschaftens bestimmen. Es ist ein Ausdruck dessen, zu was der Mensch mit seinem eigenen Willen fähig ist. Aber auch die Mystiker arbeiten sich mithilfe dieser 2 Seelenstufen hoch. Mit der geschärften theoretischen Vernunft erlangen sie Wissen über das, was sie erwarten wird, wenn Gott Sich ihnen zuwendet, und mit der trainierten praktischen Vernunft werden sie zu aufrichtig Liebenden, die demütigen Respekt für alles Geschaffene empfinden.

Die dritte und vierte Stufe der Seele dienen dem Ziel, mit der anderen Welt verbunden zu sein. Der Mensch kann zum Gefäss werden, in das sich der noch formlose Geist aus der anderen Welt ergiesst, um Form anzunehmen. Die Arbeit der Sufis besteht folglich nicht nur im Beherrschen und Erziehen der unteren zwei Seelenstufen – das kann auch ein Atheist, sondern zugleich im Fördern der positiven Eigenschaften der dritten und vierten Seelenstufe. Die zwei oberen Stufen sollen uns die Dinge in ihrer wahren Gestalt zeigen. Es geht letztendlich um unmittelbare Erkenntnis der objektiven Wahrheit (haqq).

 

Dritte Stufe: Die erleuchtete Seele (nafs al-molhama)

In dieser Seelenstufe ruht die Fähigkeit zum Empfang von Eingebung, zur Inspiration, was die Sinne für die Kräfte aus der anderen Welt öffnet. Dies beinhaltet aber die grosse Gefahr, aus falscher Quelle zu empfangen, denn wie schon erwähnt, ist die andere Welt, aus der Inspiration empfangen wird, nicht nur gut. Auch teuflische und verführerische Kräfte drängen in die diesseitige Welt, um sich in dieser Welt der Erscheinungen zu manifestieren. Darum sind das ernsthafte Einhalten von ethischen Regeln sowie der Schutz durch religiöse Rituale eine absolute Notwendigkeit, wenn die dritte und vierte Seelenstufe sensibilisiert werden sollen.

Die Inspiration aus der anderen Welt ist beeinflusst von der inneren Bilderwelt, welche die Form des empfangenden Gefässes ausmacht. Nebst angelernten Bildern aus der Erziehung und der angenommenen Religion mischen auch eigene Fantasien mit. Diese werde durch die Beziehungen zu Bekannten sowie zu spirituellen Lehrern und Seelsorgern beeinflusst. Es ist darum ratsam zu überprüfen, ob solche Einflüsse gut gemeint, uneigennützig und damit förderlich sind. Zum Vorbild genommene Menschen mit eigennützigen Tendenzen können im schlimmsten Fall die Vorstellung über die Wirklichkeit derart pervertieren, dass Tür und Tore geöffnet werden für eigensinnige oder gar boshafte Kräfte aus der anderen Welt. Ich sage dies ganz bewusst mit Blick aufs aktuelle Weltgeschehen.

Diese dritte Seelenstufe kann einen Blick auf die objektive Wahrheit vermitteln, was zu unmittelbaren Erkenntnissen führt. Solche Erkenntnisse stärken die Gewissheit und führen allenfalls zu Weisheit. Die Fähigkeit zur Güte, Freigebigkeit und Dienstbarkeit wird gestärkt. Andererseits führt „unreine Inspiration“ zu Überheblichkeit, zu Arroganz, zu missionarischem Sendungsbewusstsein mit dem Drang zur Belehrung, sowie zu narzisstischen Zügen bei Modeschöpfern, Künstlern, Musikern und Schauspielern, die ihre Inspiration an die Öffentlichkeit tragen. Das Gefährlichste an dieser Stufe ist, wie schon angedeutet, die Abhängigkeit von spiritistischen Kräften bis hin zur Besessenheit.

Was ist der Sinn dieser Stufe?

Die Tore zur anderen Welt, dem Jenseits, sollen bewusst geöffnet werden, um die objektive Wahrheit zu sehen und damit zu unmittelbaren Erkenntnissen zu gelangen. Im Schutze des religiösen Weges und mithilfe von Ritualen sensibilisieren die Sufis diese Seelenstufe. Dies geht einher mit der bewussten Arbeit an den ersten zwei Seelenstufen, um dem eindringenden Geist ein ideales Gefäss zu offerieren.

 

Vierte Stufe: Die beruhigte Seele (nafs al-motma’ene)

Dies ist die feinstofflichste und damit höchste Seelenstufe, in der sich der Mensch in Ruhe und Frieden befindet. Bei den Sufis nimmt diese Seeleneigenschaft als Tor zum esoterischen Herzen, zur eigenen Mitte einen zentralen Platz ein. Zentriert in der eigenen Mitte zu ruhen bedeutet, unberührt im Zentrum des Geschehens zu sein. In diesem Zustand des so genannten „Hier und Jetzt“ steht die Zeit still, und die Tore zur anderen Welt sind offen. Es ist das Ziel jedes Mystikers und aller Meditierenden. In diesem Zustand herrscht Gewissheit und das Gefühl des Eingebettet-seins in der kosmischen Ordnung. Im Koran ist dies wie folgt angedeutet:

O du beruhigte Seele, kehre zurück zu deinem Herrn, zufrieden, befriedigt und tritt ein unter Meine Diener, und tritt ein in Mein Paradies. (89:27-30)

Die positive Eigenschaft dieser Stufe führt zu Zufriedenheit, Geduld, Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Gewissheit und Treue. „Unreife“ Zentriertheit führt zu Passivität, Faulheit, Trägheit bis zur Depression, sowie zum Streben nach Beruhigung der Sinne. Aber auch das Gefühl, im Zentrum des Weltgeschehens sein zu müssen, stammt aus einer Sensibilisierung dieser Seelenstufe. Selbstherrliches Gehabe bis hin zu diktatorischem Verhalten kann von einer unbewussten Schwingung dieser Seelenstufe stammen.

Während eine Inspiration aus dem Jenseits von Anbeginn gefärbt ist (gut oder böse), ist der Geist Gottes neutral und ohne spezifische Eigenschaft. Eine Verfärbung entsteht erst durch deren Berührung mit der Seelensubstanz (nafs).

Was ist der Sinn dieser Stufe?

Es geht darum, uns ganz Gott hinzugeben und somit in Ihm zentriert zu sein (fana fi Allah). Auch hier geht dies einher mit der bewussten Arbeit an den ersten drei Seelenstufen, um nicht in eine Schein-Zentriertheit zu gelangen, die sich an der eigenen Nostalgie oder an den eigenen Ambitionen orientiert.

Es ist wichtig zu verstehen, dass keine der vier Stufen einer anderen überlegen ist. Alle funktionieren gleichzeitig und von Anbeginn. Jede hat ihre gute und schlechte Seite, und wir bleiben auch als verklärte Personen auf die unteren Seelenstufen angewiesen. Bis ans Ende unseres Lebens sind wir mit der Bewusstseinsarbeit und der Herrschaft über die Triebkräfte beschäftigt. Eine Überwachungsfunktion kann für die zwei ersten Stufen in beschränktem Masse die Vernunft übernehmen. Die Sicherstellung der Rechtleitung in den zwei oberen Stufen kann aber die Vernunft alleine nicht garantieren. Da ist die Hingabe innerhalb eines religiösen Rahmens oder zumindest an ethische Prinzipien erforderlich. Wir müssen verstehen dass die dritte Seelenstufe auch unvorbereitet die Türe zur anderen Welt öffnen kann, zum Beispiel mit Hilfe von Drogen oder mit magischen Ritualen. Und die vierte Seelenstufe kann auch ohne ethische Grundwerte sensibilisiert sein, was die genannte Schattenseite dieser Stufe in den Vordergrund führt.

 

Nun komme ich zu einigen wichtigen Themen über die Praxis bei den Sufis. Ich habe 5 Themen ausgewählt.

Thema 1: Die Abhängigkeit von Gottes Willen

Die Sufis sind sich bewusst, dass der Mensch letztendlich unfähig ist, sein Schicksal eigenständig zu bestimmen, auch wenn ihm eine Portion freier Wille geschenkt wurde. Dies ist nicht nur im Koran, sondern ziemlich in allen heiligen Büchern bestätigt. Wir sind in jedem Fall auf die Hilfe aus der anderen Welt angewiesen. Darum beten alle Muslime im Ritualgebet weit über ein Dutzend Mal am Tag die Fatiha, die erste Sure des Koran, welche dem Vater-Unser ähnelt und um Rechtleitung bittet. Dieses Bitten ist nicht fatalistisch zu sehen. Die Bitte um Rechtleitung provoziert in uns den Impuls, sich eigenwillig dem „Rechten Weg“ zuzuwenden. Es stärkt zugleich unseren Glauben und die Gewissheit, dass wir in jedem Umstand von Gott gesehen werden, wenn wir nach unserem eigenen Willen handeln. Celaleddin Rumi hat das Gleichgewicht zwischen Fatalismus und freiem Willen sehr schön ausgedrückt:

Freier Wille ist die Bemühung, sich für Gottes Wohltaten zu bedanken;
Fatalismus ist die Leugnung dieser Wohltaten.
Sich für die Kraft bedanken vergrössert deine Kraft;
Fatalismus nimmt dir das Geschenk aus der Hand.
(Mesnevi 1:938 f)

 

Thema 2: Die Verbindung zum Jenseits geschieht über zwei Wege

Eine Beziehung zum Hintergründigen, bei der wir das Gefühl erhalten, von Gott gesehen zu werden, ist sowohl immanent (in uns) als auch transzendent (ausserhalb von uns) möglich. Zwei Aussagen aus den Überlieferungen, die bei den Sufis von zentraler Bedeutung sind, deuten auf die zweifache Natur der Begegnung mit dem Göttlichen hin:

Weder Mein Himmel (Thron) noch Meine Erde (Schemel) umfassen Mich, doch Mich umfasst das Herz Meines treuen Dieners. (Ausserkoranisches Gotteswort, hadith qutsi)

Wohin ihr euch auch wendet, dort ist Allahs Angesicht. Siehe, Allah ist allumfassend und wissend. (Koran 2:115)

 

Gottes Immanenz im esoterischen Herzen ist für alle, die sich mit der Meditation befassen, einigermassen plausibel. Im nachfolgenden Thema 3 gehe ich auf die entsprechende Sufi-Praxis ein. Hingegen scheint mir Gottes Transzendenz heutzutage nicht mehr stark beachtet zu werden. Doch gerade dies zu erfahren ist für Sufis eine zentrale Übung des Alltags, nämlich im Weltlichen Seine Zeichen zu erkennen. Hinter allem, was wir sehen oder erfahren, schimmert das Hintergründige hervor. Allerdings war die Skepsis gegenüber der Transzendenz auch zur Zeit des Propheten ein Thema, heisst es doch im Koran:

Und wie viele Zeichen sind nicht in den Himmeln und auf Erden, an denen sie vorübergehen, indem sie sich von ihnen abwenden. (12:105)

 

Thema 3: Das Gottesgedenken

La ilaha il-Allah lautet der erste Teil des Glaubensbekenntnisses. Es ist der Aufruf, sich keinen Gottheiten, sondern nur Gott hinzuwenden. Für die Praxis liebe ich eine Übersetzung dieses arabischen Satzes, die scheinbar von Meister Eckhardt stammt, nämlich:

Tue zur Seite alles, was nicht Gott ist, und dann bleibt nur noch Gott übrig.

Dies ist eine zentrale und ständige Arbeit an uns selbst. Negative und zerstörerische Gedanken und Gefühle gehören als Erstes weggeschoben, damit wir nicht andere mit unserem inneren Zustand belasten. Dann gilt es aber auch, jene Gedanken und Gefühle wegzuschieben, die uns an das Weltliche binden. Dazu gehört alles, was mit Nostalgie und Ambitionen in Verbindung steht. Durch das Wegschieben von all dem haben wir die Gelegenheit, in die Gegenwärtigkeit zu kommen – ins „Hier und Jetzt“. Celaleddin Rumi erklärte in seinen Lehrgedichten noch und noch,  dass das Ich bzw. die Seele (nafs) nur durch die eigene Fantasie sich als etwas Besonderes und Eigenständiges vorstellen kann. Rumi geht so weit zu sagen, dass alles Übel ein Produkt der menschlichen Vorstellungskraft ist, wie zum Beispiel in folgendem Vers:

Frieden und Kriege der Menschen entspringen der Fantasie, und ihr Stolz und ihre Schande entstammen der Fantasie. (Mesnevi 1:0071)

Alle Sufis unterstützen das Zentriert-sein durch das Abladen von innerem Ballast mit dem gemeinsamen Gottesgedenken (dhikr), teilweise auch mit Körperbewegungen zu Gesang, Musik und Koranrezitation. Das bekannte Drehritual der Mevlevi (sema) gehört auch zu diesem Üben, sowie die bewusste Zurückgezogenheit (cile). Es geht darum, in einen anhaltenden leeren Zustand zu kommen, wo weder Gedanken noch Emotionen stören. In dieser Gemeinsamkeit des „Hier und Jetzt“ öffnen sich die Tore zur anderen Welt, und die förderlichen Kräfte (Engel) eilen uns hilfreich entgegen.

 

Thema 4: Die Wichtigkeit der Vernunft

Wie schon erwähnt, wird der Vernunft eine wichtige Rolle für das Beherrschen der Triebe in den zwei unteren Seelenstufen zugeordnet. Im Studium der Überlieferungen und entsprechenden Literatur sowie im aufmerksamen Zuhören in Lehrgesprächen (sohbet) wird die Vernunft gestärkt. Schlussendlich geht es darum, die Botschaft des Korans so weit wie möglich zu verstehen. Der Koran spricht über sich selbst wie folgt:

Allah hat die schönste Botschaft hinabgesandt: ein Buch in Einklang mit sich, voll Wiederholung. Vor ihm schrumpft die Haut derer, die ihren Herrn fürchten. Alsdann glättet sich ihre Haut und ihr Herz bei dem Gedenken Allahs. Das ist Allahs Leitung, mit welcher Er leitet, wen Er will. Und wen Allah irreführt, der hat keinen, der ihn leitet. (39:23)

Da der heilige Koran sehr schwierig zu verstehen ist, existiert bei den Sufis viel erklärende Literatur, die dem Studium dienen. Allein in unserem Orden besteht das von Celaleddin Rumi diktierte Lehrbuch (das Mesnevi) aus 25’633 nummerierten Doppelversen.

 

Thema 5: Der Respekt für die anderen Menschen und die Schöpfung (adab)

Im Alltag hilft uns der Gedanke, dass in jedem Menschen, in welchem Zustand er auch ist, etwas Göttliches enthalten ist. Wir üben uns im respektvollen Umgang mit den Anderen, auch wenn sie weder unserem Geschmack noch unseren Gewohnheiten noch unserer gesellschaftlichen Zugehörigkeit entsprechen. Das ist aber noch nicht genug. Wir müssen auch darauf achten, dass wir während dem respektvollen Umgang und im Dienst für andere uns innerlich nicht aufblähen. Wir üben uns darin, ohne Erwartung eines Dankes oder gar einer Gegenleistung dienstbar zu sein. Oder mit anderen Worten:

Wir üben uns darin, nicht jemand sein zu wollen.

 

Damit komme ich ans Ende meiner kurzen Ausführungen, indem ich nochmals auf das grundlegende Problem unserer Seele hinweise.  Die Seele mit ihrem Ichgefühl will besonders und eigenständig sein. Sie kann es nicht ertragen, einmal sterben zu müssen; und damit hat sie es auch schwer, wenn sie relativiert wird. Somit stellt sie sich ins Zentrum des Geschehens, wo immer es geht. Sie will gesehen, anerkannt und geliebt werden, Diese permanente Sehnsucht richtet sich anfänglich an andere Menschen, doch mit der spirituellen Arbeit verlagert sie sich zum Jenseitigen. In der Mystik konzentriert sich die ganze Sehnsucht auf das Erkennen Gottes und aufs Entwerden in Ihm.

Das erwähnte Üben der Sufi, nicht jemand sein zu wollen, ist der Seele völlig zuwider. Die Reaktionen lassen beim Üben auch nicht auf sich warten: mindestens subtil melden sich die Widerstände sofort. Der Sufi-Weg ist kein Weg des Wohlbefindens. Es ist ein ständiges aufwändiges Schleifen an sich selbst. Celaleddin Rumi sagt das sehr schön:

Dann mache es dir zur Gewohnheit – auch wenn du einen dunklen Körper wie Eisen hast – zu polieren, zu polieren, zu polieren;
Damit dein Herz ein Spiegel voller Bilder wird und dir aus jeder Richtung reizende weisse Schönheit zeigt.
Auch wenn das Eisen dunkel war und kein Licht besass, hat es durch Polieren doch die Dunkelheit verloren.
Das Eisen hat das Polieren ertragen, und seine Oberfläche wurde davon schön, und man kann Bilder darauf sehen.
Weil der Körper grob und dunkel ist, poliere ihn – denn er ist für das Poliermittel empfänglich;
Damit die Formen des Unsichtbaren in ihm erscheinen und der Widerschein von Hûrî und Engel auf ihn treffen.
Gott hat dir Poliermittel gegeben, die Vernunft, um die Oberfläche des Herzens glänzend machen zu können. …..
(Mesnevi 4: 2469 ff)

 

Koranstellen in Anlehnung oder gemäss Übersetzung von Max Henning.

Zitate von Rumi mit freundlicher Genehmigung der Übersetzergemeinschaft Bernhard Meyer, Kaveh und Jilla Dalir Azar:
aus Rumi, Das Masnavi, Verlag Shershir.