Zur Vermarktung des Sema in Ost und West (Bahar Can, Dezember 2008)

Hör zu! Höre auf den Gesang der Rohrflöte …

(von Bahar CAN)

 

Jedes Jahr im Dezember, zur Zeit des Sheb-i Arus, gedenken wir Hz. Mevlanas. Zu diesem Anlass werden Konferenzen, Symposien und Sema-Rituale organisiert. Wie Sie sich erinnern, haben wir letztes Jahr nicht nur Sheb-i Arus, sondern mit grosser Freunde auch das von der Unesco portierte Mevlana-Jahr international gefeiert. Denn am 30. September 2007 jährte sich zum 800sten Mal Hz. Mevlanas Geburtstag. Eigentlich hätte ein so grosser Heiliger wie Hz. Mevlana es nicht nötig, dass wir seiner gedenken. In unserer Hilflosigkeit aber sind wir diejenigen, die es nötig haben, ihn in Würde zu verstehen zu versuchen, ihn zu erspüren und so weit nur irgend möglich uns selber zu Gefährten dieses grossen Heiligen zu machen. Jedoch, wenn auch unsere Absichten noch so gut und rein sein mögen, so sind die jeweiligen Auffassungen und Empfindungen doch ganz verschieden, so ist das Verständnis mitunter doch sehr unterschiedlich. Um Hz. Mevlanas zu gedenken, wurden im letzten Jahr die verschiedensten Events veranstaltet; sogar ein Feuerwerk haben wir für unseren Hz. Pir während der Feierzeremonie in Konya steigen lassen! Wäre er ein Pop-Ikone, hätten wir wahrscheinlich dasselbe getan…

Aus unserer Sicht ist es sehr bedauernswert, wie in der Türkei im Verlauf der letzten Jahre insbesondere das heilige Ritual des Sema von Hz. Mevlana degradiert, um nicht zu sagen degeneriert wurde, so dass es nun mehrheitlich den Charakter einer Folkloreaufführung angenommen hat, die überall und in jeder Umgebung veranstaltet werden kann. Und in Europa wird das Sema meistens mit „Tanz der Derwische“ umschrieben. Ja, für nicht wenige Leute mag die Frage, was das Sema ist und was es nicht sein kann, ob es Tanz ist oder ob es nicht Tanz sein kann, ein ernsthaftes Diskussionsthema darstellen…Wir als Suchende möchten das göttliche Geheimnis des Sema aber möglichst von Hz. Mevlana selber erfragen und direkt von ihm lernen. Im Folgenden führe ich ein paar Gedichtverse von ihm an; schon nur die Bedeutung dieser Verse gebührend zu spüren, birgt in sich die Möglichkeit, den Empfindungen und der Gefühlswelt Hz. Mevlanas näher zu kommen – ein sehr hohes Verständnis und Empfinden in Bezug auf jene käme jedoch einem Geschenk Gottes gleich, das nicht jedem zuteil wird. Doch auch wenn es uns nicht selten versagt bleibt, den Kern oder die eigentliche Essenz eines Verses, einer Aussage zu erfassen, so glauben wir doch fest daran, dass es auch dann von Nutzen sein wird, wenn wir wenigstens von der Schale einen Anteil abbekommen.

Weisst Du, was Sema bedeutet? – Die Frage Gottes „Bin ich nicht Euer Herr?“ und die Antwort der Seelen „Ja, Du bist unser Herr!“ zu hören, sich zu verlieren und sich mit Gott zu vereinen.

Weisst Du, was Sema bedeutet? – Sema bedeutet, die Zustände des Freundes zu sehen, durch die Schleier der unsichtbaren Welt, der göttlichen Welt die Geheimnisse Gottes zu hören.

Weisst Du, was Sema bedeutet? – Sich von seiner eigenen Existenz loszulösen, um in der absoluten Nichtexistenz auf den Geschmack der ewigen Existenz zu kommen…“ (Dîvân-ı Kebîr Seçmeler, II, Şefik Can, Ötüken Neşriyat, 2000, s. 377).

„Was ist Sema? – Von den verborgenen Heiligen im Herzen Nachrichten zu erhalten. Wenn das armselige Herz Briefe von ihnen erhält, wird es wach, erlangt Frieden. In diesem Nachrichtenwind, erblühen die Blätter des Verstandbaumes, sie erwachen vom Schlaf. Mit dieser Erschütterung wird der Körper von der Enge gerettet, wird weit, erlangt Frieden (…) Derjenige, der durch die Sema-Musik nicht ergriffen wird, der dreht wie zu Eis erstarrt, der ist niedriger als die Verstorbenen, die zu nichts geworden sind; ihm soll die Erde auf den Kopf fallen! Denn er ist kein wahrer Mensch. Er ist wie eine Leiche, die wandert…“ (Dîvân-ı Kebîr Seçmeler, II, Şefik Can, Ötüken Neşriyat, 2000, s. 365).

„Der Ozean des Herzens wogt durch den Wind des Sema; in diesem Ozean zeigen sich hunderte von Wellen. Nicht jedes Herz ist würdig, die Schönheit des Sema und die zu erlangende Freude zu verstehen. Diejenigen, die den Ozean des Herzens erreicht haben, werden durch diesen Wind des Sema erregt und fallen in Ohnmacht…“ (Hz. Mevlânâ’nın Rubaileri, Şefik Can, T.C. Kültür Bakanlığı Yayınları, 2001, rubai 1174).

„Sema gibt denjenigen, die durch die Gottesliebe wach geworden sind, Ruhe und Frieden im Herzen. Derjenige, der weise ist, derjenige, der eine Seele seiner Seele hat (d.h. einer, der nicht eine tierische, sondern eine menschliche Seele hat), weiss über diese Wahrheit Bescheid (…) Sema ist für die Verliebten. Der, der die Herzen erfreut – es geht darum, sich mit diesem einzigartigen, unsichtbaren Geliebten geistig zu vereinen…“ (Dîvân-ı Kebîr Seçmeler, I, Şefik Can, Ötüken Neşriyat, 2000, s. 224).

Vor Jahrhunderten wurde das Sema nicht jederzeit, an jedem Ort und mit jedermann durchgeführt. Besonders achtete man darauf, dass keine Fremden oder gar feindlich Gesinnte  sich unter den Gefährten einer Sema-Gesellschaft befanden. Denn man war der Überzeugung, dass im Sema nur dann Gottes Segen und Gnade erlangt werden könne, wenn dieses zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und mit den richtigen Leuten abgehalten würde. Man befürchtete, dass Fremde oder missgünstig Gesinnte die seelische Atmosphäre einer Sema-Gesellschaft, in welcher Geist und Körper Eins werden, stören könnten und so die Möglichkeit einer geistigen Vereinigung verringert werden könnte (Erken dönem sûfîlerinde semâ’, Süleyman Uludağ, Keşkül Dergisi, 2006, sayı 07, s. 17). Doch selbst zur Zeit Hz. Mevlanas wie auch in Zeiten danach hat man bezüglich dieser Drei-Punkte-Empfehlung, „Zeit-Ort-Gefährte“, immer wieder auch Toleranz geübt. In unserer heutigen Zeit werden unseres Erachtens die Grenzen dieser Toleranz jedoch masslos überschritten: das Sema wird nun in Teegärten, auf Podien und auch an manchen anderen touristischen Orten (auch mit Live-Musik!) als eigentliche Derwisch-Show vorgeführt. – Das Sema, auf das wir seit jeher so grossen Wert legten und woran wir uns mit allem Respekt erinnern, das Sema, das uns vor Jahrhunderten als ein Andenken an unseren Pir geblieben ist und uns als anvertrautes Gut in Obhut gegeben ist, könnte für unser Empfinden kaum schlimmer missbraucht werden! – Ist es uns nun schon so sehr zur Gewohnheit geworden, unsere geistigen Werte für Nichtigkeiten herzugeben, dass wir nicht einmal mehr merken, was richtig ist und was falsch ist? – Diese Shows, fern jeglichen seelischen Empfindens und nur des Profits wegen aufgeführt, entsprechen in keiner Weise mehr dem Sema; sie sind nichts Weiteres als irgendeine Performance… In der Sufi-Lehre wird gesagt, dass manche Semazen im Zustand der Nafs (Zustand der niederen Triebe), manche im Zustand des Hâl (Zustand der Gelöstheit bzw. der Aufgelöstheit), und manche im Zustand des Haqq (Zustand in Gott), im Sema drehen. In Anbetracht dieser Überlegungen, in welchem Zustand-, warum und für wen jemand dreht, beziehungsweise gedreht wird, bleiben uns Verstand und Träume stehen! – Wie heutzutage von allem eine Kopie zu haben ist, so scheint es nun leider auch zahllose Kopien unechter Sema und Semazen zu geben, die sich wild verbreiten.

Auch in Europa ist das Sema mittlerweile recht bekannt. Doch da das Sema ursprünglich in einer tief östlich-islamischen Kultur entstanden ist und ein Ritual darstellt, das dem Westen von seinem Wesen her grundsätzlich fremd ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es in der westeuropäischen Kultur gar nicht richtig verstanden werden kann. Nur so ist es wahrscheinlich zu erklären, dass in einer renommierten Zeitschrift wie dem „Spiegel“, in dessen Spezialausgabe über die Türkei, folgende Zeilen zu lesen sind (Tanzende Verbindung, Anne-Sophie Fröhlich, Spiegel Special, 2008, sayı 6, s.28): „Die tanzenden Derwische, die zur Bruderschaft des Mystikers Mevlana Celalleddin Rumi aus dem 13. Jahrhundert gehören, sind eine touristische Attraktion.“ Wohl gemerkt, in einer Zeitschrift, die in vielen europäischen Ländern vertrieben wird und Millionen von Menschen erreicht, wird das mit „Tanzende Derwische“ umschriebene Sema, kategorisch und deutlich als eine touristische Attraktion bezeichnet. Weiter im Text steht, dass die Mevlevis seit 1925 „nur noch bei Folkloreveranstaltungen“ auftreten würden… In einer so renommierten Zeitschrift einen derart unsorgfältig recherchierten Text vorgesetzt zu bekommen, ist gelinde gesagt besorgniserregend; angesichts dieser betrüblichen Vorkommnisse gelangen wir jedoch zum Schluss, dass wir, die wir schon in der Türkei selber „unser Sema“ in dem oben beschriebenen  Ausmass haben entarten und vermarkten lassen, vom Westen in dieser Sache auch nicht viel mehr an Kenntnis und Verständnis erwarten dürfen.

Im deutschen Sprachgebrauch kommen von jeher meistens die Bezeichnungen „Tanz der Derwische“ oder „Derwisch-Tanz“ zur Anwendung. In manchen Herausgaben werden aber auch Bezeichnungen wie „Sema-Ritual“ oder „Sema-Zeremonie“ verwendet. Doch die häufigste Umschreibung, der wir begegnen, bleibt „Tanz der Derwische“. Sogar in der Türkei selber ist in Heftchen, Broschüren und auf Plakaten, die für die Ausländer auf Deutsch herauskommen, meistens der Begriff „Tanz der Derwische“ anzutreffen. Wogegen wir doch alle wissen, dass das Sema kein Tanz ist! Wenn doch wenigsten wir in der Türkei, in unseren eigenen Publikationen, nicht einen so verfänglichen Ausdruck verwenden würden, der nur die Grundlage für falsche Interpretationen bietet!

Denken Sie denn, dass das Sema, in Europa als „Tanz der Derwische“ lanciert, von den Menschen so überhaupt verstanden werden kann? Ich gebe Ihnen im Folgenden einige Beispiele aus der Schweiz, denn auch hierzulande stösst das Sema als „Tanz der Derwische“ auf ein breites Interesse. So ist es für etliche Studierende gar zum Thema ihrer Diplomarbeit geworden. Ich selber konnte mich anlässlich einer solchen Arbeit davon überzeugen, dass es hierbei nicht eigentlich darum ging, Hz. Mevlana und seine Lehren zu verstehen und/oder  von ihm zu lernen; im Gegenteil, Ziel der Arbeit war, das Sema als eine Art von Musik begleiteter Drehbewegung, als eine Art Dreh-Tanz unter der Kategorie Tanz zu untersuchen. Wie sonderbar ist es doch, das Sema als Tanz untersuchen zu wollen! Wo doch das Sema vielmehr eine Art grenzüberschreitende, geistige Reise darstellt, eine Reise des Herzens zu Gott, wie zugleich eine Reise Gottes zum Herzen – mit einem Tanz hat es aber weder von Nahem noch von Weitem etwas zu tun.

Und im bekannten Migros-Magazin der Schweiz wird berichtet (Sanfte Drehung im Kreis, Carl Bieler, Migros-Magazin, 2008, sayı 3, s. 94), dass nun auch Derwisch-Tänze ins Tanzkursangebot aufgenommen worden seien, wobei dem Beschrieb nicht recht zu entnehmen ist, ob es darum geht, zu drehen wie im Sema, oder ob getanzt wird… Auf dem zugehörigen Foto ist die zuständige Tanzlehrerin abgebildet: sie trägt wirklich einen langen weiten, wellenhaft wallenden Rock wie die Semazen sie tragen, ihr rechter Arm reckt sich nach oben, die linke Hand zeigt nach unten – sie zeigt aber auch ihren freien Nabel und ein tiefes Dekollté… Im Westen gibt es nun also Semazen mit Dekollté!

Ferner steht in einem Bericht der „Schweizer Familie“ (Alles dreht sich ums Gebet, Melissa Müller, Schweizer Familie, 2008, sayı 29, s): „So sehen es die Sufis, die islamischen Mystiker. In ihren Augen ist der Tanz ein Gebet.“ Diese Aussage gleicht ein wenig einer arithmetischer Gleichung mit nur einer Unbekannten: wenn das Sema „Tanz der Derwische“ genannt wird, dann ist das Tanzen im Islam logischerweise ein Gebet! – Wer soll derartige Aussagen in Zeitschriften, die in die Hände so vieler geraten, wie verstehen?

Unseres Erachtens ist es zumindest ungünstig und wenig stimmig, wenn Bezeichnungen wie Sema, Sema-Ritual oder Sema-Zeremonie auf Deutsch mit unzutreffenden, verfänglichen Ausdrücken wie „Tanz der Derwische“, „Derwisch-Tanz“ oder „Die tanzenden Derwische“ gleichgesetzt werden. Denn auf diese Weise kann unser Ritual von jemandem aus dem Westen, der Hz. Mevlana nicht kennt und in Bezug auf die im Sema verborgenen, geistigen Geheimnisse ahnungslos ist, wirklich nur so wahrgenommen werden, wie wenn dies eine in der östlichen Mystik produzierte, fremde oder unbekannte Form von Tanz sei.

Hz. Mevlana sagt, Gestern ist mit Gestern gegangen, heute muss Neues gesagt werden. Doch leider konnte mit diesem Schreiben im Westen wie im Osten nichts wesentlich Neues gesagt werden. Es konnte lediglich einer schmerzlichen Angelegenheit, die seit Jahren vor unseren Augen steht, Ausdruck verliehen werden… Indes, auch wenn einen ob all den oben erwähnten Auswüchsen manchmal beinahe übel werden könnte, so wissen wir im Innersten doch, dass jeder noch so tief verborgene Winkel unseres Herzens im Grunde hell und von Licht erfüllt ist. Denn so wie es niemals sein kann, dass das göttliche Licht von Hz. Mevlana beschattet werde, so wird es auch nie möglich sein, den heiligen, geistigen Genuss, das Licht des Sema zu beschatten. – Und ist es im Grunde genommen nicht auch so, dass letztlich alles vor seinem Gegensatz Bestand hat? Wenn es keine Kopie gäbe, würde auch das Original nicht wertgeschätzt… Das Sema wird stets in den entrückten, vor geistiger Liebe übervollen Herzen-, in den Seelen, welche in sich die Seele gefunden haben, erspürt und gelebt werden.

Von seiner Bestimmung her ist der Semazen weder jemand, der nach folkloristischem Brauch tanzt, noch jemand, der einfach dreht – der Semazen ist vor allem jemand, der hört und noch mehr zuhört! Er hört der im Sema vernommenen göttlichen Melodie zu, in dem Sinn, wie Hz. Mevlana es im ersten Vers des Mesnevi beschwört: „Hör zu…!“ Die Musik ist gleichsam eine Stimme aus dem Jenseits, ein Klang wie von Gott. Der Semazen hört also zu… und in diesem Zuhören ist es, als ob seine Seele geradezu beflügelt würde und er flöge und flöge und in jene Welt einginge; in seiner Verliebtheit im Sema drehend, ist es, als schreite er über beide Welten hinweg – – und mit Gottes Gnade kann es zu einem Moment der Vereinigung kommen, in dem alle Schleier aufgetan werden! – Im Sema gibt es den heiligen Genuss, sich mit dem Geliebten zu vereinen. Im Sema geschieht die mystische Verzückung in der göttlichen Liebe. Im Sema ist die Liebe selbst. So sagt auch Hz. Mevlana über die göttliche Liebe im Sema folgendes (Hz. Mevlânâ’nın Rubaileri, Şefik Can, T.C. Kültür Bakanlığı Yayınları, 2001, rubai 2211):

„Liebe ist nicht, irgendwann aufzustehen und den Staub unter deinen zwei Füssen aufzuwirbeln. Liebe ist, wenn du beginnst, im Sema zu drehen, das Leben zu opfern und durch beide Welten hindurch zu gehen.“

Im Grunde ist das Sema nur ein Vorwand, denn in dieser Welt gibt es nichts anderes als die  Liebe. In jedem Augenblick, in jedem Teilchen und Tropfen uns der Schönheit dieser göttlichen Liebe gewahr werdend, bleiben unsere Sehnsucht, unser Wunsch und unser einziges Ziel nur Er!

„Wohin ich meinen Kopf auch immer hinlege, so ist die Anbetung nur Er.
In sechs Richtungen, und über die sechs Richtungen hinweg, ist nur Gott, Er.
Der Garten, die Rose, die Nachtigall, die Schönheit alles nur Vorwände.
Durch all dies, ist die Absicht ganz Er.“
(Hz. Mevlânâ’nın Rubaileri, Şefik Can, T.C. Kültür Bakanlığı Yayınları, 2001, rubai 337)

Dieser Artikel wurde in der türkischen Zeitschrift „Berceste“, in der Ausgabe vom Dezember 2008 veröffentlicht. – http://www.bercestedergisi.com/

Übersetzung Tülin Özgür, Bearbeitung Birgit Kunz/Dezember 2008