Referat von Peter Hüseyin Cunz in der City-Kirche St. Jakob, Zürich, am 13. Mai 2016
Verehrte Damen und Herren,
Ich wurde gebeten, über das äussere und innere Wachstum zu sprechen. Das äussere Wachstum mit seinen Grenzen, das seit einigen Jahrzehnten die ökologische und soziale Debatte beflügelt, werde ich nur kurz erwähnen. Ich möchte mich vorwiegend aufs innere Wachstum konzentrieren, das ebenfalls seine Grenzen und Tücken enthält. Beginnen will ich mit einem Hinweis über die religiöse Gemeinschaft, die ich vertrete.
Wie im Christentum gibt es auch im Islam eine Vielzahl an mystischen Bewegungen, die mit dem Sammelbegriff „Sufismus“ bezeichnet werden. Einige davon sind als Orden strukturiert mit eigenen Versammlungsräumen und klösterlichen Zentren. Ich bin Vorsteher eines solchen Ordens in der Schweiz. Wir sind jene Gemeinschaft, die durch das Ritual der „Tanzenden Derwische“ bekannt ist. Diese schöne Kirche St. Jakob ist schon seit Jahren vier Mal im Jahr Gastgeberin für dieses Ritual.
Über uns und über unseren Ordensgründer Celaleddin Rumi gibt es reichlich Literatur in allen Sprachen. Rumi lebte im 13. Jhd. und gilt noch heute als einer der grössten Mystiker und Heiligen des Islams. Er verfasste über 60’000 mystische Verse (Divan-i kebir) und Lehr-Sprüche (Mesnevi), welche Grundlage unseres Ordenslebens sind. Die Verehrung für ihn ist im gesamten islamischen Raum sehr gross, und auch darüber hinaus. Rumi wird allgemein mit dem Titel „Mevlana“ (oder „Mawlana“) beehrt, was „unser Meister“ bedeutet. Darum nennt sich unser Orden „Mevlevi-Orden“. Was ich Ihnen über unser Verständnis von dieser Welt vermitteln werde, wird nicht in allen islamischen Orden genau gleich gesehen und verstanden. Der Islam kennt eine Vielzahl an Deutungen der koranischen Botschaft.
Gemäss der monotheistischen Vorstellung erschuf Gott den Menschen aus Lehm und Geist. Dieser Mensch – also jeder und jede von uns hier – lebt in einer zweigeteilten Schöpfung, bestehend einerseits aus dieser Welt der Erscheinungen, dem sichtbaren Diesseits, und andererseits der hintergründigen Welt, dem subtilen Jenseits, das wir auch „die andere Welt“ nennen. Es ist diese Zweiteilung der Schöpfung, die eine Dynamik offeriert, in welcher der Menschen näher zu sich selbst und damit zu Gott gelangen kann. Beide Welten sind somit gleichfalls zu respektieren! Jede der zwei Welten verleiht der anderen Bedeutung und Sinn.
Über beiden Welten existiert eine schöpferische Instanz, die wir „Gott“ oder „Allah“ nennen. Gott ist der Schöpfer beider Welten; Er ist für uns Menschen nicht vorstellbar. Jede vermeintliche Vorstellung von Gott führt zu Überheblichkeit. Darum steht ganz zu Beginn der Bibel das Gebot für alle monotheistischen Religionen: „Du sollst dir von Gott kein Bildnis machen“. Doch auch wenn Gott nicht zu begreifen ist, verspricht Er im heiligen Koran jedem Menschen Seine Nähe:
Wir erschufen doch den Menschen und wissen, was ihm sein Inneres zuflüstert. Und wir sind ihm näher als seine Halsschlagader. (50:16)
Der Mensch verkörpert die eigentliche Verbindung der zwei Welten. Die Sufis sind sich dessen bewusst: ihr Weg ist mit einem Fuss in dieser und mit dem anderen Fuss in der anderen Welt. Die Verbindung zum weniger offensichtlichen raum- und zeitlosen Jenseits zu suchen ist für den Sufi ein alltägliches Begehren. Um auf seinem Weg vorwärts zu kommen, sehnt er sich nach dem Wachsen seiner Beziehung zur geistigen Welt. Wachstum, um vorwärts zu kommen? Da sind wir ja bereits im Thema des heutigen Abends.
Das bekannte Gesetz, dass es uns ökonomisch schlecht geht, wenn kein Wachstum vorhanden ist, wirft ein bedenkliches Licht auf die Beschaffenheit der Schöpfung Gottes. Viele Menschen wehren sich gegen die Vorstellung, dass wir auf einer räumlich begrenzten Erde Wachstum anstreben müssen, um normal leben zu können. Doch es gibt selbst in der Physik, also den Gesetzen, welche die Erde zusammenhalten, ein unaufhaltsames Wachstum. Ich spreche von der Entropie, die besagt, dass es irreversible Prozesse gibt, die uns letztendlich in einen Endzustand führen, der einem hässlich-grauen toten und kalten Planeten gleichkommt, auf dem jedes Leben ausgelöscht ist.
Wie wollen wir mit dieser Realität umgehen? Religiöse Menschen mögen dieses Ende mit dem letzten Gericht gleichsetzen, wo Gott Sein weltliches Werk abschliesst. Für mich ist eine solche Erklärung nicht befriedigend, denn das würde ja heissen, dass Physiker den Tag des Gerichts berechnen könnten. Gott der Allmächtige und Allumfassende kann nicht selbst Opfer seiner Schöpfung sein. Wir können Gott nicht begreifen, und somit scheitert jeder Erklärungsversuch an der Unendlichkeit von Gottes Wesen. Wenn ich Gott ernst nehme, kann ich nicht an einen Automatismus glauben, dem Er unterworfen wäre.
Im Glauben an eine zweigeteilte Welt, so wie ich es erläutert habe, ist es doch vorstellbar, dass Gott ständig die Entropie wieder hinunterschraubt, dass Er also immer wieder die Bausteine Seiner Schöpfung mit Hilfe der Kräfte aus dem Jenseits verrückt und neu ordnet, um Seinem Werk das Weiterbestehen zu garantieren. Etwa so, wie wenn Eltern am Abend, nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht haben, die Spielsachen aufräumen, damit am anderen Tag die Kinder diese wieder frisch verwenden können. Als Gläubiger gefällt mir dieser Gedanke, auch wenn mein rationales Denken damit herausgefordert wird.
Im Koran steht tatsächlich, dass Gott ständig mit Seiner Schöpfung beschäftigt ist:
Ihn bittet, wer in den Himmeln und auf Erden ist. Jeden Tag ist Er am Werk. (55:29)
Gott ist täglich am Werken! Das heisst, dass diese Welt der Erscheinungen von der anderen Welt beeinflusst wird. Wenn das gilt, kann die sichtbare Welt nicht mehr als geschlossenes System gesehen werden, in dem die Gesamtenergie konstant bleibt. Im Glauben an etwas Grösseres können wir die Angst überwinden, dass wir und unser Lebenssinn dem Automatismus des Entropiegesetzes ausgeliefert sind. Doch damit will ich keinesfalls die Sorge um die Grenzen des Wachstums klein reden, so quasi in der Haltung: „Gott wird es schon richten!“ Der Koran fordert vom Menschen, dass er für das Irdische Verantwortung trägt. Vor allem aber appelliert die koranische Botschaft in vielen Versen an die Vernunft:
Siehe, in der Schöpfung der Himmel und der Erde und in dem Wechsel der Nacht und des Tages und in den Schiffen, welche das Meer durcheilen mit dem, was dem Menschen nützt, und in dem was Allah vom Himmel an Wasser niedersendet, womit er die Erde nach ihrem Tode belebt, und was Er an allerlei Getier auf ihr verbreitet, und in dem Wechsel der Winde und der Wolken, die dem Himmel und der Erde dienen – wahrlich, in all dem sind Zeichen für Leute vom Verstand. (2:164)
Wachstum ist bei den Sufi durchaus ein wichtiges Thema. Um welches Wachstum geht es da? Auch wenn der Wohlstand des Einzelnen eher im Hintergrund steht, so liegt den Sufi doch das Wohlergehen der Gesellschaft sehr am Herzen. Somit darf ökonomisches Wachstum durchaus auf der Wunschliste eines Sufi sein. Doch wenn er oder sie an sich selbst denkt, steht ein anderes Wachstum im Vordergrund. Dem Sufi geht es ums Wachstum jener inneren Qualitäten, die uns näher zu Gott führen.
Was kann dieses Wachstum innerer Qualitäten sein? Geht es um die Entwicklung und Stärkung des Charakters und der Persönlichkeit? Dann muss ich fragen: „Was treibt mich an, meinen Charakter und meine Persönlichkeit zu stärken?“ Wer das wünscht, strebt nach besserem Halt und Durchsetzungsvermögen. Es ist ein irdisches Ziel, das in bestimmten Fällen sinnvoll sein kann, doch nur das Ego wünscht dies als Hauptziel.
Oder geht es beim Wachstum innerer Qualitäten um die Erhöhung des Bewusstseins? Vom Wunsch nach erhöhtem Bewusstsein hört oder liest man oft. Woher kommt dieser Wunsch? Was ist das Ziel? Warum wollen wir „bewusster“ werden, wenn nicht in der Vorstellung, damit unser Leben besser im Griff zu haben und in erhöhte Zustände vorzudringen? Visionssuche und die Suche nach Erleuchtung gehören zu diesem Thema. Ein Sufi fragt sich: „Was zieht mich nach Visionen, Erleuchtung und Bewusstsein? Will ich dadurch etwa einer spirituellen Elite angehören? Ist das nicht auch ein versteckter Egoismus?“ Rumi sagt:
Bewusstsein entsteht aus der Erinnerung an das Vergangene:
Vergangenheit und Zukunft sind ein Schleier vor Gott. (Mesnevi 1:2201)
Oder soll das Wachstum sich auf die Stärkung des Glaubens und der Liebesfähigkeit beschränken? Das ist sicher schon näher an dem, was die Sufis anstreben. Aber auch hier fragt ein Sufi: „Ist es die Angst, die diesen Wunsch in mir weckt? Wie steht es mit meiner Angst vor Strafe und Hölle?“ Ich glaube, dass wir jetzt auf ein berühmtes Gedicht hören sollten. Es stammt von der Sufi-Heiligen Râbi’ah al-’Adawiyyah (713-801 in Basra):
O Gott, was Du mir von der Welt geben willst,
gib es Deinen Feinden;
und was Du mir im Himmel geben willst,
gib es Deinen Freunden,
denn Du selbst genügst mir!
O Gott, wenn ich Dich aus Furcht vor Deiner Hölle anbete,
so verbrenne mich in Deiner Hölle;
und wenn ich Dich Deines Paradieses wegen anbete,
so verschliesse mir dessen Tür!
Aber wenn ich Dich nur Deiner selbst willen anbete,
dann beraube mich nicht des Schauens Deines Angesichts!
Ja, etwas in uns soll wachsen, doch dieses Wachstum darf nicht unsere irdischen Wünsche und Ambitionen nähren. Es geht um ein Wachstum, das sich unserem Willen entzieht. Vielleicht haben wir bereits grobe charakterliche Hindernisse überwunden. Doch sofort kommen weitere, subtilere Hindernisse zum Vorschein. Das innere Wachsen oder – in anderen Worten – das Vorangehen auf einem religiösen oder spirituellen Pfad besteht aus einem ständigen Wegwischen von Hindernissen. Das islamische Glaubensbekenntnis drückt dies aus: La il-aha il-Allah (es gibt keinen Gott, ausser Gott) bedeutet in der Praxis, dass wir alles, was wir als nicht göttlich erkennen, zur Seite schieben. Und am Schluss bleibt dann nur noch Gott übrig. Alles was von uns kommt, auch unsere Konzepte und Fantasien, müssen letztendlich weg. Der Schweizer Heilige Niklaus von Flüe drückte dies in einem Gebet sehr schön aus. Es ist ein Gebet, das ohne weiteres von einem grossen Sufi-Heiligen stammen könnte:
Mein Herr und mein Gott, nimm alles mir,
was mich hindert zu Dir;
Mein Herr und mein Gott, gib alles mir,
was mich fördert zu Dir;
Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen Dir.
Für die Sufis besteht der spirituelle Weg aus einem Transformationsprozess der Seele. Wie stellen sich die Sufis die Seele (nafs) vor? Sie besteht aus feinstofflicher Substanz und ist Trägerin der Charaktereigenschaften, der Sinne, der Gedanken und der Absichten. Sie ist somit auch die Trägerin für ein Ich-Gefühl.
Die Seele umhüllt in mehreren Schichten den innersten göttlichen Kern. Wenn das Licht Gottes sich durch den Menschen manifestieren will, muss es einen Weg durch die Seelenmasse finden. Auf diesem Weg verfärbt sich das Licht und erscheint dann in dieser Welt in Form menschlicher Eigenschaften.
Ich werde Ihnen jetzt zusammengerafft ein vier-stufiges Modell der Seele vorstellen, wie es im Sufismus überliefert ist. Jede Stufe hat ihre Licht- und Schattenseite, und alle Stufen entwickeln sich parallel und nicht etwa hierarchisch nacheinander. Unser Ordensgründer, Celaleddin Rumi sagte in einem seiner Lehrverse:
Die Seele (nafs) hat Gotteslob auf der Zunge und den Koran in der rechten Hand;
(doch) in ihrem Ärmel steckt Dolch und Schwert. (Mesnevi 3:2524)
Bei jeder Stufe dieses Seelen-Modells werde ich auf die dafür typischen egoistischen Wünsche hinweisen. Das Bestreben nach Befriedigung dieser nie endenden Wünsche nenne ich hier „Wachstumsfallen“.
Erste Stufe: Die befehlende Seele (nafs al-ammare)
Die „befehlende Seele“ fasst unsere vegetativen und tierischen Eigenschaften zusammen. Dazu gehören der Selbsterhaltungstrieb mit der Nahrungsaufnahme und dem Arterhaltungstrieb, sowie der Wunsch nach Sicherheit und der Drang nach Wohlstand. Bei Nichterfüllung oder Gefahr reagiert diese Stufe reflexartig und unbewusst mit Zorn, Feindseligkeit oder Wetteifer. Eine übermässige Freiheit dieser Seelenstufe öffnet die Tore zur Gier und bewirkt Habsucht, Geiz, Neid, Wollust und den Drang nach Sättigung.
Diese Seelenstufe ist unsere Basis für Arbeits-, Willens- und Leistungsfähigkeit. Sie ist die direkte Verbindung zu unserem Körper und dem materiellen sowie emotionalen Ausdruck anderer. Sie wird von äusseren Umständen direkt beeinflusst.
Die Wachstumsfalle in dieser Seelenstufe ist der Wunsch nach Sicherheit und Wohlstand.
Zweite Stufe: Die lamentierende Seele (nafs al-lawwame)
Hier drückt sich die intellektuelle Fähigkeit des Reflektierens aus, was „Verstand“ genannt wird und den Menschen vom Tier unterscheidet. Mit dieser Seelensubstanz ist der Mensch fähig, seine Situation zu ermessen, zu vergleichen, und er kann Wissen erlangen. Er ist fähig, sich ein Bild zu machen über Richtiges und Falsches, über Gut und Böse. Auf dieser Stufe entwickelt der Mensch das Bedürfnis nach eigenständiger Identität, nach Besitzstand und Selbstbestimmung. Bei Unzufriedenheit tendiert er zu allen Varianten des Konkurrenzdenkens mit der selbstverständlichen Beschuldigung anderer. Funktioniert das nicht, dreht er den Spiess um und sucht nach Aufmerksamkeit durch Selbstbeschuldigung oder durch auffallende Unterwürfigkeit. Neid, verbaler Kampf, Heuchelei, Ärger, Bosheit, Stolz und Prahlerei gehören ebenso zu den negativen Eigenschaften dieser Seelenstufe, wie die übermässige Gesetzestreue und Paragraphengläubigkeit, die übermässige Verpflichtung für religiöse Gebote, oder die Enthaltsamkeit und Askese.
Die Wachstumsfalle diese Seelenstufe ist der Wunsch nach Bewusstsein mit mentaler Kontrolle über alles.
Dritte Stufe: Die erleuchtete Seele (nafs al-molhama)
In dieser Seelenstufe ruht die Fähigkeit zum Empfang von Eingebung und zur Inspiration, was die Fenster für die Kräfte aus der anderen Welt öffnet. Dies beinhaltet aber die grosse Gefahr, aus falscher Quelle zu empfangen, denn die andere Welt, aus der Inspiration empfangen wird, ist nicht nur gut. Auch teuflische und verführerische Kräfte drängen in die diesseitige Welt, um sich in dieser Welt der Erscheinungen zu manifestieren.
Die dritte Seelenstufe führt zu unmittelbaren Erkenntnissen. Diese stärken die Gewissheit und führen allenfalls zu Weisheit. Inspiration führt aber leicht zu Überheblichkeit mit missionarischem Sendungsbewusstsein. Das Gefährlichste an dieser Stufe ist die Abhängigkeit von spiritistischen Kräften bis hin zur Besessenheit.
Die Wachstumsfalle diese Seelenstufe ist der Wunsch nach Visionen und Erleuchtung.
Vierte Stufe: Die beruhigte Seele (nafs al-motma’ene)
Dies ist die feinstofflichste und damit höchste Seelenstufe, in der sich der Mensch in Ruhe und Frieden befindet. Bei den Sufis nimmt diese Seeleneigenschaft als Tor zum esoterischen Herzen einen zentralen Platz ein. Zentriert in der eigenen Mitte zu ruhen bedeutet, unberührt im Zentrum des Geschehens zu sein. In diesem Zustand des so genannten „Hier und Jetzt“ steht die Zeit still, und die Tore zur anderen Welt sind offen. Es ist das Ziel jedes Mystikers und aller Meditierenden. In diesem Zustand herrscht Gewissheit und das Gefühl des Eingebettet-seins in der kosmischen Ordnung.
Die positive Eigenschaft dieser Stufe führt zu Zufriedenheit, Geduld, Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Gewissheit und Treue. Die Schattenseite der Zentriertheit ist Passivität, Faulheit, Trägheit und das Streben nach Beruhigung der Sinne. Aber auch das Gefühl, im Zentrum des Weltgeschehens sein zu müssen, stammt aus einer Sensibilisierung dieser Seelenstufe. Selbstherrliches Gehabe bis hin zu diktatorischem Verhalten kann von einer Sensibilisierung dieser Seelenstufe stammen.
Die Wachstumsfalle diese Seelenstufe ist der Wunsch nach Macht, entweder in der realen Welt durch Herrschsucht, oder durch die Flucht in eine Scheinwelt der Fantasie, wo wir im Zentrum eines Fantasie-Geschehens sein können.
Sie haben sicher gemerkt, dass keine der vier Stufen einer anderen überlegen ist. Alle funktionieren gleichzeitig und von Anbeginn. Jede hat ihre Licht- und Schattenseite, und auch als verklärte Personen bleiben wir weiterhin auf die grobstofflichen Seelenstufen angewiesen. Auch Heilige sind bis ans Ende ihres Lebens mit der Herrschaft über die Triebkräfte beschäftigt.
Wir haben von Licht- und Schattenseiten gesprochen: wo sich in und durch uns eine spezifische Eigenschaft manifestiert, existiert mindestens als Möglichkeit auch das Gegenteil. Darum ist aus Sicht der Sufis nicht das Erreichen von Eigenschaften das Ziel. Selbst Tugenden sollen nur Instrument sein und nicht zum absoluten Ziel werden. Das Ziel ist etwas bereits Vollkommenes, das nicht wachsen muss, das schon da ist. Im Koran sagt Gott:
Wir erschufen doch den Menschen und wissen, was ihm sein Inneres zuflüstert. Und wir sind ihm näher als seine Halsschlagader. (50:16)
Somit sollen wir nicht nach Wachstum streben, sondern nach Minderung! Wir sollen uns verzehren, wir sollen entwerden und schliesslich sterben, um dem Grösseren und letztendlich dem Absoluten Platz zu machen. Inneres Wachstum wird von den Sufis als Geschenk gesehen, das aus der Gnade Gottes (ar-Rahim) fliesst – ein „Dankeschön Gottes“ für unsere Anstrengung beim Wegräumen von Hindernissen inklusive uns selbst. In diesem Sinn sprechen grosse Heilige und Mystiker vom letztendlichen Ziel des Nichtseins. „Schattenloses Licht gibt es nur in Ruinen“, sagt Rumi (Mesnevi 6:4747), und in einem anderen Gedicht weist er auf den zielführenden Prozess hin:
Ich starb als Mineral und wurde zur Pflanze;
dann starb ich als Pflanze und wurde zum Tier.
Ich starb als Tier und wurde ein Mensch;
was sollte ich also fürchten? Wann hat mich der Tod geringer gemacht?
Beim nächsten Mal sterbe ich als Mensch, um mit den Engeln zu fliegen.
Und selbst als Engel muss ich weichen,
denn „alle Dinge vergehen ausser Seinem Angesicht“ (Koran 28:88).
Und wieder werde ich geopfert und als Engel sterben;
ich werde etwas Unvorstellbares werden.
Dann werde ich zu Nichtsein;
Schön wie eine Orgel singt das Nichtsein zu mir:
„Siehe, zu Ihm kehren wir heim“ (Koran 2:156).
(Mesnevi 3:3901 ff; siehe auch 4:3637 ff)
Der bekannte Spruch „Stirb, bevor du stirbst“ ist das Motto bei diesem Thema, also eine grösste Herausforderung. Solange das Nichtsein noch ein Konzept ist, tut es ja nicht weh. Doch ab einem bestimmten Punkt, wo es ernst gilt, mögen viele nicht weiter gehen. Rumi beschreibt dies sehr eindrücklich:
Du liebst Gott, und Gott ist so, dass kein Haar von dir bleibt, wenn Er kommt.
Bei Seinem Anblick verschwinden hundert wie du;
ich glaube, mein Freund, du bist in die Verneinung deiner selbst verliebt.
Du bist ein Schatten und in die Sonne verliebt:
Die Sonne kommt und sofort verschwindet der Schatten.
(Mesnevi 3:4621 ff)
Ich habe versucht, Ihnen einen Geschmack des Sufi-Weges zu geben, was auch als islamische Mystik bezeichnet wird. Im äusseren Erscheinen gibt es bei den Sufis grosse Unterschiede, von äusserst orthodox bis sehr liberal. Im Respekt für den anderen Menschen und in gewissen täglichen Praktiken sind sie sich aber alle ähnlich. Und zwei Meilensteine in Form von grossen Hürden teilen sich die Sufis mit allen Wegen der Mystik. Diese zwei Hürden, die von jedem Mystiker auf dem Weg zum Nichtsein zu bewältigen sind, will ich zum Schluss noch erwähnen.
Die Mystik beginnt mit einem von der Vernunft unterstützten Glaubensweg. Tugenden und ethische Wertvorstellungen eines Glaubensweges sind begreifbar und rational vertretbar. Ob monotheistisch, buddhistisch, hinduistisch oder frei-denkend: die erste grosse Hürde erscheint uns dort, wo die Grenze des Begreifens erreicht ist. Beobachtung, Verstand und Sinne helfen hier nicht weiter.
Um weiter zu kommen, müssen wir uns einer Führung anvertrauen, die uns an der Hand hält, wenn wir unsere Kontrollmechanismen loslassen. Ungeachtet logischer Überlegungen wandern wir gemäss den Anweisungen eines religiösen Pfades oder eines vorbildlichen Menschen. Der christliche Grundsatz „Glaube, Hoffnung und Liebe“ ist zentral beim Überwinden der ersten grossen Hürde. Der Glaube nährt die Hoffnung, welche uns mutig genug machen, um die Grenze des Begreifens zu überschreiten. Der Antrieb, darüber hinaus weiter zu gehen, ist die Liebe zum Göttlichen (aschk). Es ist eine Liebe, die sich nicht über ein irdisches Muster definiert. Rumi sagt:
Was ist dann Liebe?
Das Meer des Nichtseins, in dem die Vernunft untergeht.
Dienerschaft und Herrschaft sind bekannt;
diese beiden Schleier verbergen den Zustand des Liebenden.
(Mesnevi 3:4723)
Doch letztendlich werden wir auch als Liebende eine zweite Hürde überschreiten müssen, wenn es dann darum geht, uns vollkommen in die Hände Gottes fallen zu lassen (fana fi Allah). Wir sterben im Meer des Nichtseins. Darüber kann nicht mehr viel diskutiert werden. Der berühmte Sufi-Heilige Huseyin ibn Mansur al-Halladsch (858-922) drückt diesen letztendlichen Schritt so aus:
Wer die göttliche Wahrheit mit dem Licht des Glaubens sucht,
ist wie einer, der die Sonne mit dem Licht der Sterne sucht.
Möge dies als Denk-Anstoss dienen! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Urheberrechte der mit freundlicher Genehmigung verwendeten Zitate aus dem Mesnevi sind bei der Übersetzergemeinschaft Bernhard Meyer, Kaveh und Jilla Dalir Azar. Die Bücher, welche die Zitate enthalten, sind auf dem Markt erhältlich (Rumi „Das Matnavi“, Edition Shershir, Dr. Peter Finckh).
Die Übersetzungen des Korans stammen von Max Henning.