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Spirituelle Ziele im Alter (Juni 2002)

Was sind die spirituellen Ziele im Alter aus Sicht des Islam und wie können sie erreicht werden?

Vortrag von Peter Hüseyin Cunz

3. Münsterlinger Symposium zur Alternspsychotherapie
Münsterlingen, 1. Juni 2002

BISMILLAH

Sehr geehrter Herr Bäurle, verehrte Damen und Herren,

In meinem Referat über die spirituelle Bedeutung des Alters im Islam werde ich als erstes den Begriff „Islam“ abgrenzen, um dann über Glaubensinhalte zu den Fragen der Praxis im Alter zu kommen. Bitte beachten Sie, dass ich mich in vielem kurz fasse. Über jedes Einzelthema, das ich anschneiden werde, wurden schon Bände geschrieben. Vieles, was meine Vorredner vorbrachten, ist auch im Islam gültig.

Abgrenzung

Das Wort und der Begriff „Islam“ umfasst ein weites Interpretationsfeld. Schon kurz nach dem Tode des Propheten Mohammed begannen sich die Meinungen über die Umsetzung der prophetischen Botschaft zu teilen, und dies hat bis heute angedauert. Die aktuelle Weltlage ist genügend Zeuge dafür. Die Geschichte des Islam war leider – wie auch im Christentum – immer vom Machtanspruch der Theologen geprägt.

Zur Illustration ein Beispiel:

Im heiligen Koran steht „Als einzig wahre Religion gilt bei Gott die Hingabe an Ihn“ (Sure 3:19). Das arabische Wort für Hingabe (oder Unterwerfung) ist „Islam“. Nun wird fälschlicherweise in den meisten Koranübersetzungen statt dem Wort „Hingabe“ der arabische Begriff „Islam“ importiert, und es wird geschrieben, „Als einzig wahre Religion gilt bei Gott der Islam“. Dies erzeugt beim Lesenden den falschen Eindruck, dass Gott von uns das will, was wir heute vom Islam beobachten. Die Übersetzer transferieren somit die Interpretation über das, was Islam zu bedeuten hat, vom Koranleser in die Hände der islamischen Theologen.

Dieses Beispiel ist nur eines von vielen. Die Tendenz der Einflussnahme auf den Gläubigen durch die Theologen mit ihren kulturell geprägten Vorstellungen war immer allgegenwärtig. Es ist zu bedenken, dass viele Formen des Islam nur im Ansatz mit der ursprünglichen Botschaft zu tun haben und vorwiegend von lokalen traditionellen Gepflogenheiten des orientalischen Mittelalters geprägt sind. Wir beobachten grosse Unterschiede im Benehmen von Muslimen, je nach dem, ob diese aus dem orientalischen, dem afrikanischen oder dem fernöstlichen Raum stammen, oder je nach Lebensstandard und intellektueller Kapazität. Selbst die islamische Mystik, die bei uns allgemein unter dem Begriff „Sufismus“ zusammengefasst wird, erfährt grosse Unterschiede in der Betonung von überlieferten islamischen Formen.

Ich selbst vertrete einen islamischen Orden, der sich im Mystiker Mevlana Cellaleddin Rumi – kurz Mevlana (Meister) genannt – begründet. Dieser Heilige lebte im 13. Jahrhundert und war einer der überzeugendsten Vertreter von ganzheitlicher Sicht und Toleranz. Seine Schriften, die in allem immer auf das Hintergründige und die all-einende Kraft Gottes hinweisen, gehören bis zum heutigen Tag zu den wichtigsten Überlieferungen der islamischen Mystik. Form und Rituale dieses Ordens, der durch den „Drehtanz der Derwische“ auch im Westen recht bekannt ist, lassen – im Gegensatz zum formalen Islam – nebst dem theologischen Wissen und den Wissenschaften auch Formen der Schau und Ekstase zu.

Über Glaube und spirituelle Ziele

Zusätzlich zum Koran bestimmen vor allem Überlieferungen über Aussagen des Propheten die islamische Gläubigkeit, welche auf fünf Pfeilern steht:

  • Dem Bekenntnis, dass niemand anbetungswürdig ist ausser Gott, und dass Mohammed der Gesandte Gottes ist (Glaubensbekenntnis),
  • Den täglichen Gebeten (5 Mal im Tag),
  • Der Abgabe einer Armensteuer (2.5 % des ruhenden Vermögens pro Jahr),
  • Der Pilgerfahrt (ein Mal im Leben), und
  • Dem Fasten im Monat Ramadan (kein Essen und Trinken am Tag).

In einer Überlieferung sagte der Prophet: „Glaube bedeutet, dass du an Gott (Allah) glauben sollst, Seine Engel, Sein Buch und Seine Propheten. Dass du glauben sollst an den Tag des Gerichts und an die göttlichen Gesetze bezüglich des Guten und Bösen“ (Mishkat).

Wir Muslime sind uns bewusst, dass wir nur dieses eine Leben haben, um Gutes zu tun. Mit dem Tod kommen wir an den Ort – oder noch besser: in den Zustand, den wir „Jenseits“ nennen. Es ist dies der nächste Abschnitt unserer Reise in den Endzustand, dem „Paradies“. Nach dem Tod stehen wir entblösst vor Gott mit dem, was wir aus dieser Welt gebracht haben. Wir haben dann kein Instrument mehr, um etwas wieder gut zu machen; wir sind vollständig dem Mitgefühl und dem Willen Gottes ausgeliefert.

Wir Muslime haben nur ein einziges spirituelles Ziel, nämlich dass Gottes uns anlässlich des Tages des Gerichts grosszügig akzeptiert. Um dies zu erreichen stützen wir uns auf die Empfehlungen der islamischen Überlieferung über das richtige Verhalten im Diesseits.

Zum Alter und Tod

Im Alter glauben wir, dem Tode nahe zu stehen, und darum wird im Alter das Sterben zu einem wichtigen Thema. Dies ist an sich ein Trugschluss. Nach islamischer Vorstellung ist das Sterben immer ein aktuelles Thema – ob jung oder alt. Wir wissen nie, ob wir im nächsten Augenblick noch leben werden, denn Gott allein bestimmt den Zeitpunkt unseres Todes. Dem Alter eine höhere Wahrscheinlichkeit des Todes zuzuordnen könnte als Versuch verstanden werden, Gottes Willen statistisch voraussagen zu wollen, und dies ist ein im Grundsatz nicht tolerierbarer Gedanke – Wissenschaft hin oder her. Aber selbstverständlich hat die Wissenschaft und damit auch die Statistik im relativen Kontext des Diesseits ihren wichtigen Platz.

Aus islamischer Sicht können wir vier Arten des sich mit dem Tod beschäftigen unterscheiden:

  • Der typisch weltliche Mensch ist ganz in den Erscheinungen des Diesseits verhaftet. Er hat das Gefühl, mit dem Tode nur zu verlieren und verdrängt damit alle diesbezüglichen Fragen. Der Tod ist für ihn kein Thema. Aus islamischer Sicht bewegt er sich ständig weg von Gott.
  • Der bereuende Mensch, der sich unter anderem damit beschäftigt, Vergangenes wieder gut zu machen. Er will noch möglichst lange leben, denn er will altes wiedergutmachen. Ihm kommt ein baldiger Tod nicht gelegen.
  • Der sogenannte gute Mensch, den keine formalen Sünden belasten. Er befolgt strikte alle Gebote und ist von seinem richtigen Verhalten überzeugt. Er freut sich auf den Tod, der ihn zu Allah führen wird und hofft, dass das möglichst bald sein wird.
  • Wenn ich von „formalen Sünden“ spreche, dann ist hier anzumerken, dass im formalen Islam ein fehlgeleiteter Gedanke noch nicht als Sünde gesehen wird. Auf dieses Thema werde ich nochmals zurückkommen.
  • Der wirklich religiöse Mensch, dem es egal ist, wann er sterben wird, da er sich schon im Diesseits mit dem Nicht-behaftet-sein und der vollständigen Unterwerfung unter Gottes Willen lebt. Einem solchen Menschen ist der Unterschied zwischen Diesseits und Jenseits nicht von Belang, da er vollständig akzeptiert, was immer Gott ihm auferlegt.

Hören wir, was Mevlana zum Altwerden sagt:

Auch wenn Obst alt wird, wird es doch, solange es noch nicht reif ist, unreif genannt.

Wenn jemand wie eine unreife Frucht hundert Jahre alt wird, ist er doch noch ein Kind und nach Meinung jeder klugen Person unreif.

Auch wenn sein Haar und sein Bart weiss sind, befindet er sich noch immer im kindischen Zustand von Furcht und Hoffnung.

Doch wehe den kindischen, undisziplinierten Erwachsenen, die mit ihrer Stärke zum Unheil für jeden Gefährten werden! 

(Mesnevi IV:4722)

Das Leben im Diesseits, der Übergang vom Diesseits ins Jenseits, sowie der Gang vom Jenseits ins Paradies am Tage des Gerichtes, werden von den Engelscharen organisiert. Unter „Engel“ verstehen wir die Kräfte Gottes. Allah erschuf vier Erzengel und legte alle Angelegenheiten der Geschöpfe und die Verwaltung des Weltalls in ihre Hände. Er bestimmte Jibril (Gabriel) zum Meister der Offenbarung und der Botschaft; Mika’il (Michael) zum Meister des Regens und der Versorgung; Izra’il (Todesengel) zum Meister der Hinwegnahme der Seelen; und Israfil (Rafael?) zum Meister des Trompetenblasens.

Es ist Aufgabe Izra’ils, des Todesengels mit seinen Engelscharen, die Menschen vom Diesseits ins Jenseits zu führen. Die Überlieferungen beschreiben in einer äusserst blumigen Sprache, was bei diesen Vorgängen alles geschieht, ähnlich den Beschreibungen in der biblischen Offenbarung oder im tibetischen Bardo Thödol.

Zur Praxis

Der Prophet soll gesagt haben: „Armselig ist die Person, armselig ist die Person, und noch einmal, armselig ist die Person, die lange genug lebt, um das hohe Alter ihrer Eltern zu bezeugen, und doch daran scheitert, sich das Paradies zu verdienen“ (Muslim). Nun ist – wie schon erwähnt – im Islam allein über die Taten Rechenschaft abzulegen; die zu Lebzeiten gehegten Gedanken und empfundenen Gefühle werden am Tage des Gerichtes nicht in die Waagschale geworfen. Ein Hass- oder Lustgefühl ist noch keine Sünde, solange es sich nicht in einer schlechten Tat entlädt – dies im Gegensatz zu christlich geprägten Vorstellung, die sich z.B. an Jesu Wort erinnern: „Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen“ (Math. 5:28). Auch die Vorstellung einer Erbsünde, die zu Lebzeiten eine Erlösung erfahren muss, wird im Islam nicht anerkannt.

Ich gehe davon aus, dass solche Glaubensinhalte – ich spreche vom notwendigen Tatbeweis im führen eines guten Lebens – in der Seelsorge und Psychiatrie an Muslimen zu berücksichtigen sind. Die Aufforderung zur Tat und damit die Bezeugung des Wiedergutmachens ist für Muslime ganz wichtig. Das Zeugnis vor Gott drückt sich in der Tat aus und nicht – wie es in der heutigen Esoterik immer wieder zum Ausdruck kommt – im guten Gefühl. (Unsere buddhistischen Brüder haben heute Morgen von „heilsamen Handlungen“ gesprochen.) Jedes Gebet hat seine Zeit, und diese Zeit richtet sich nicht nach unseren Gefühlen. Gefühle werden als Produkt von allerlei Einflüssen gesehen und können daher nicht als Taktgeber für unser religiöses Verhalten dienen.

In vielen überlieferten Zitaten wird darauf hingewiesen, dass wir uns ständig des baldigen Todes bewusst sein sollen, und dass wir weder mit der Zeit noch mit dem guten Willen des Todesengels spekulieren sollen. Wir sollen den Tod möglichst oft vor Augen haben und in jedem Augenblick darauf gefasst sein. Dies ist – wie schon gesagt – nicht aufs Alter beschränkt. Im Alter sind wir aber am stärksten dafür sensibilisiert, was uns aus islamischer Sicht zu folgenden Fragen drängt:

  • Harmonisieren meine Gedanken und Gefühle mit dem, was ich den „rechten Glaube“ nenne?
  • Habe ich mir etwas zu Schulden gemacht, das noch auf Wiedergutmachung wartet?
  • Habe ich etwas nicht gesagt, das noch zu sagen ist? Habe ich etwas noch nicht getan, das zu tun ist?

Wie kann ich mich für den Rest meines Lebens ganz Gott hingeben?

Wir Muslime sind uns bewusst, dass wir letztendlich nichts aus eigener Kraft tun können. Der sogenannte Eigenwille ist wohl als Motor für „gute“ oder „böse“ Taten vorhanden, aber letztlich ist auch dieser von Gottes Willen abhängig. Somit bleibt uns letztlich nichts anderes übrig – ob jung oder alt – als uns auf die überlieferten Gebote zu verlassen und ständig Gott zu bitten, Er möge uns doch die richtigen Gedanken und Gefühle als Grundlage unseres eigenen Entscheidens schenken. Im Gedenken Gottes suchen wir Seine Nähe, um dann von Seinem unendlichen Mitgefühl und Seiner Gnade zu profitieren. Vor jedem Gebet, vor jedem Koranzitat und vor jeder wichtigen Handlung sagen wir „Bismillah-i Rahman-i Rahim“, was ungefähr heisst „Im Namen Gottes des Barmherzigen und Gnädigen“.

Für uns Muslime liegt ganz grundsätzlich das Heil im Gottesgedenken, und alle Gebote und Regeln sind Instrumente, um das Gottesgedenken zu unterstützen. Im Islam sind die fünf täglichen obligatorischen Gebete mit den vorausgehenden Waschungen ein ausgezeichnetes Mittel, das Gottesgedenken zu üben. Fünf Mal am Tag sammeln wir unsere Gedanken und unser Gemüt und werfen uns vor Gott nieder. Mit solchen überlieferten Ritualen können auch Muslime im Alter oder in Zeiten beschränkter Vitalität auf einfache Art dem Erfordernis des Korans gerecht werden, wenn dort steht: „Gedenket Mein, und Ich will euer gedenken“ (Sure 2:152).

Im Gottesgedenken nähern wir uns dem wirklichen Ort, wo Gott Seinen Thron hat, nämlich im eigenen Herzen. Wenn wir dort im Palast Gottes ankommen, können wir sagen – ich zitiere Mevlana:

In unserem Herzen ist ein Tulpenbeet und ein Rosengarten; Alter und Verfall haben keinen Zutritt.

Wir sind immer frisch und jung und anmutig, unverwelkt und süss und fröhlich und reizend.

Für uns sind hundert Jahre das Gleiche wie eine einzige Stunde, denn lang und kurz berührt uns nicht mehr.

Länge und Kürze liegt in den Körpern; wo ist das Lange und Kurze in den Seelen?

Wie könnte es Überdruss und Alter und Erschöpfung geben, wo es keinen Tag und keine Nacht, keinen Monat und kein Jahr gibt?

Da wir im Rosengarten des Nichtseins ohne Selbst sind, gibt es für uns den Rausch aus dem Pokal der Göttlichen Gnade. 

(Mesnevi III: 2935-2942)

Wir dürfen nicht vergessen, dass das Führen eines „guten Lebens“ und das Ändern von Gewohnheiten aus eigenem Antrieb eine gewisse Portion an Vitalität erfordert. Diese fehlt den älteren Menschen wie auch den Menschen in Schwierigkeiten. Darum empfehle ich, die möglichen Massnahmen zu ritualisieren. Rituale – und insbesondere religiöse – wurden dafür geschaffen, uns eine Hilfe zu geben. Diese Hilfe benötigen wir umso mehr, als unsere vitalen Kräfte abnehmen. So wie das Zähneputzen zur praktischen Gewohnheit wird, die auch in Zeiten der Schwäche zum tragen kommt, kann die Gewohnheit des Betens zu bestimmten Zeiten als tragende Stütze dienen. Die fünf täglichen Gebete sind wie fünf Verankerungen im Tagesablauf, dessen stabilisierende Wirkung nicht zu unterschätzen ist. (Prof. Kramer sprach heute Morgen von Geborgenheit; Rituale spenden Geborgenheit.)

Somit will ich schliessen mit der nochmaligen Aufforderung, alten Menschen zum unterstützenden Ritual in ihrer eigenen Gläubigkeit zu verhelfen.

Ich danke für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.

Die Zitate aus dem Mesnevi sind entnommen aus
Rumi: „Das Matnavi“, Edition Shershir, Dr. Peter Finckh, mit freundlicher Genehmigung der Übersetzergemeinschaft Bernhard Meyer, Kaveh und Jilla Dalir Azar.