Referat von Peter Hüseyin Cunz, Paulus-Akademie Zürich:
Islam in der Schweiz
Tagung vom 30.11./1.12.2002
BISMILLAH
Verehrte Damen und Herren,
Es war vor über 25 Jahren, dass ich – beeinflusst von den Umständen, die mir mein Schicksal bescherte – als geborener Schweizer Protestant mich zum Islam bekannte. Vieles war dadurch neu für mich – und einiges war geradezu faszinierend. Während den nachfolgenden Jahren durfte ich im Rahmen des Islams immer wieder Neues entdecken, und meine innere Rebellion gegen menschgemachte kirchliche Systeme konnte sich legen. Und schrittweise durfte ich auch in den Garten der islamischen Mystik treten – ein Gebiet, das wir in unserer Sprache mit „Sufismus“ bezeichnen. Heute bin ich Lehrbeauftragter – man nennt dies „Scheich“ – im Orden der Mevlevi, die hierzulande oft „Wirbelnde Derwische“ genannt werden. Mein Geld verdiene ich als Sektionschef im Bundesamt für Energie.
In meinem Suchen nach essenziellen Erkenntnissen innerhalb des Islams war ich nicht durch eine islamische Erziehung vorprogrammiert. Es klebten keine aus der Kindheit stammenden Bilder und Wertvorstellungen islamischer Natur an mir, und somit hatte ich keine Angst, die Überlieferungen kritisch zu betrachten, und ich hatte nicht das Gefühl „zu sündigen“, wenn ich mit nicht einleuchtenden Hadithen und überlieferten Interpretationen haderte. In dieser Freiheit konnte ich die ergreifende Entdeckung machen, dass der Islam von mir in keiner Situation ein Ausklammern meiner Vernunft und meines philosophischen Denken abverlangt. Und so fühlte ich mich mit allen meinen existenziellen Fragen allmählich zu Hause.
Ich gehöre zu den sogenannten Intellektuellen. Ich gebe mich nicht zufrieden, wenn meine Vernunft nicht befriedigt ist. Als ich noch Christ war, glaubte ich den Worten Jesu, ohne diese in Frage zu stellen. Ich hatte aber die grösste Mühe, kritiklos gewisse Aussagen in den Apostelbriefen anzunehmen. Und gänzlich unbefriedigt war mein Intellekt mit den Auslegungen und dem institutionellen Denken der Kirchen. Und so wie ich damals als Christ die überlieferten Worte Jesu als Glaubensinhalt annahm und auch heute noch annehme, so akzeptiere ich heute als Muslim den Inhalt des heiligen Korans als Fundament meines Glaubens.
Als Muslim vertrete ich die Meinung, dass alles, was von Menschen stammt, der zeitgenössischen Vernunft unterzuordnen ist. Dies betrifft – und dies ist meine persönliche feste Überzeugung – sämtliche Überlieferungen, die von den früheren Religionsvorstehern und Theologen stammen, sowie alle Interpretationen von damals und von heute. Ich gehe so weit zu sagen, dass auch das, was der Prophet in seinem Menschsein aussagte, der zeitgenössischen Vernunft zu unterstellen ist. Ich bin mir bewusst, dass ich mit dieser Überzeugung nicht ganz dem traditionalistischen Trend der islamischen Gemeinschaft folge.
Das Festhalten an veralteten Denkweisen, Interpretationen und Strukturen ist aus meiner Sicht ein riesiges Problem im Islam der heutigen Zeit. Dabei wird verkannt, dass die eigentliche islamische Botschaft derart universell und grossartig ist, dass sie bestens als Basis für das moderne Denken und auch für philosophische Überlegungen geeignet ist. Die Universalität dieser Religion lässt in mir eine Identität zu, die sich in unserer von der Renaissance geprägten Gesellschaft ohne weiteres – ja sogar mit Leichtigkeit – leben lässt.
Wenn ich der Vernunft eine grosse Bedeutung zuordne, so will ich doch auch kurz ein Wort über deren Grenzen sagen. Es ist überliefert, dass der heilige Koran sich erst dem richtig öffnet, der ihn liebt. Das heisst: es gibt im Islam – wie in jeder Religion – unumwerfliche Grundsätze, die nicht beweisbar sind und die vom Gläubigen quasi diskussionslos uneingeschränkt angenommen werden. Und erst in diesem Annehmen werden wir zur vertieften Erkenntnis befähigt – zu jener Erkenntnis, die den Gläubigen vom Philosophen unterscheidet. Ich sage dies, weil es aus meiner Sicht wichtig ist, dass wir im interreligiösen Dialog unserem Gegenüber den vollen Respekt für seine Grundsätze zollen müssen. Unser Gegenüber darf nicht dazu gezwungen werden, die Richtigkeit seiner religiösen Grundsätze beweisen zu müssen, ansonsten der Dialog von Anbeginn zum Scheitern verurteilt ist. Jeder Mensch hat Anrecht, in seinem ehrlichen und persönlichen Glaubensbekenntnis ernst genommen und respektiert zu werden. Unverträglich hingegen ist das aufdringliche Sendungsbewusstsein, das besserwissende Sich-Abgrenzen. Darauf komme ich noch zu sprechen.
Verehrte Damen und Herren, als Muslim darf ich meine angeborene Schweizer Kultur voll und ganz leben. Kein Schweinefleisch zu essen und keinen Alkohol zu trinken, im Ramadan zu fasten, am Tag fünf Mal zu beten und das sich Zusammentun mit anderen Gläubigen – das und weitere Anweisungen vertragen sich sehr gut mit unserem modernen Denken. Ich glaube an den gleichen Gott wie die Juden und Christen, und wir teilen alle den Propheten Abraham als Urvater unserer Religionen. Das Problem liegt nicht in solchen grundsätzlichen Fragen, „der Teufel steckt im Detail“.
Sehr oft musste ich die folgende Szene erleben:
Ich bekenne einem angeborenen Muslim meine Konversion zum Islam. Er (oder sie) freut sich riesig, umarmt mich, nennt mich „Bruder“ und sagt, dass er mir jederzeit behilflich sein werde, den Islam noch besser zu verstehen. Dann nach einer Weile fragt er mich, ob ich auch wirklich fünf Mal am Tag bete, ob ich die Fastenzeit korrekt einhalte und – nicht alle fragen das – ob ich mich habe beschneiden lassen. Mit meinem gut-schweizerischen Charakter eines Perfektionisten komme ich sogleich in einen Rechtfertigungszwang, der damit endet, dass mein Gesprächspartner mich mit allerlei Belehrungen überhäuft, die ich nun wirklich nicht gesucht hatte.
Heute, wenn jemand so kommt, frage ich höflich, wer ihm das Recht gibt zu beurteilen, ob ich ein guter Muslim bin oder nicht. Meist endet dann der Dialog mit einigen Entschuldigungen.
Damit spreche ich ein Problem an, das ich immer wieder antreffe, wenn ich mit anderen Muslimen zusammenkomme. Es hat vermutlich mit dem Bedürfnis nach Abgrenzung und Zugehörigkeit zu tun. Wenn ein Muslim mir sagt, er freue sich, dass ich Muslim geworden bin, denn nun „gehöre ich auch zu ihnen“, dann sickert in diesen Worten ein Anspruch durch. Und Ansprüche sind bekannterweise hemmende Faktoren in der Suche nach dem Religionsfrieden.
Noch heute – das muss ich gestehen – werde ich als liberaler Muslim oft etwas unsicher, wenn ich Muslimen oder Musliminnen begegne, die ich noch nicht kenne. Im Ungewissen darüber, ob nun diese Person vor mir eine orthodoxe oder eine liberale Gläubigkeit lebt, weiss ich da oft nicht so recht, wie ich mich im Moment korrekt verhalten soll. Darf ich der Frau vor mir die Hand zum Gruss reichen, ohne sie oder ihren Mann damit zu brüskieren? Eine Abgrenzung zwischen orthodoxen und liberalen Muslimen ist nicht immer augenscheinlich, und eine formelle Abgrenzung gibt es nicht. Die islamischen Gruppierungen sind eher kulturell bedingt und von der Sprache abhängig, in welcher der Imam beim Freitagsgebet seine Reden hält.
Kultur und Religion sind in jeder Gesellschaft eng verknüpft. Wenn wir mit dem Zusammenleben unter Christen und Muslimen Probleme antreffen, dann sind diese meist von kultureller und nur sehr selten von religiöser Natur. Die Verweigerung von christlichen Gruppierungen, den Muslimen einen gebührenden Platz in den Friedhöfen zu gewähren – und wenn schon dann nur mit erniedrigenden Auflagen – hat nichts mit dem christlichen Gedankengut zu tun. Da geht es um Abgrenzungen, Besitzansprüche und Ängste vor Identitätsverlusten. Dies sind Themen, die in unserer Gesellschaft dringend zu behandeln sind, und darum ist eine Konferenz wie diese vorbildlich. Und bekannterweise sind solche Konflikte der Abgrenzung auch unter Christen anzutreffen. Schon als kleiner Junge, als protestantischer Kindergärtler in St. Gallen, habe ich Religionskämpfe gegen die katholische Konkurrenz ausgefochten. Unser Slogan war „Katholisch, rossbolisch!“, worauf uns die katholischen Kindergärtler nachriefen: „Reformiert, d’Hose verschmiert!“
Wir alle haben Anspruch auf Sicherheit und Anerkennung, und diese Bedürfnisse führen ganz natürlich zum Drang, einer bestimmten kulturellen Gruppierung anzugehören. Es ist darum auch verständlich, dass zum Beispiel meine Mitarbeiter im Bundesamt für Energie unsicher sein könnten, wenn sie plötzlich erfahren, dass ich Muslim bin. Sie sind als Angestellte in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zu mir, und so wissen sie dann nicht, ob meinerseits gewisse Erwartungen bestehen, ob ich ein Sendungsbewusstsein habe und ob ich schockiert sein werde, wenn sie an einem gemeinsamen Ausflug eine Weinflasche öffnen. Es ist ausgesprochen wichtig, sämtliche existierenden oder potenziellen Unsicherheiten durch den offenen Dialog und Information zu eliminieren. Und was in einem kleineren Kreis wie im Arbeitsumfeld zu tun ist, ist auch in einer ganzen Gesellschaft vonnöten.
Als ich vor 6 Jahren im Bundesamt angestellt wurde, liess ich vorerst von meiner Religionszugehörigkeit nichts anmerken. Die arabischen Kalligraphien, die mein Büro schmücken, begründete ich mit meiner Liebe zu dieser Kunst. Dies blieb so bis zum Moment, als drei Jahre später in der Wochenzeitschrift Facts eine kleine Reportage mit Foto von mir erschien. Wie ein Lauffeuer ging das Blatt durch alle Hände – doch nichts unangenehmes geschah. Die Tatsache, dass während drei Jahren niemand davon Kenntnis genommen hatte, eliminierte jegliches Gefühl der Zwiespältigkeit oder Angst. Vielmehr wurden einige bereichernde Gespräche mit interessierten Kollegen und Kolleginnen möglich.
Ich gehöre eindeutig zu den privilegierteren Menschen mit gutem Job und guter gesellschaftlicher Verankerung. Dazu kommt, dass ich ein Muslim mit europäischer Kultur bin. Ich bin keinesfalls gewillt, mein kulturelles Erbe zugunsten orientalischer Gewohnheiten zu verleugnen, und damit erscheine ich unter Schweizern auch bei einfacheren Gemütern nicht als Fremdkörper. Von meiner Frau erwarte ich nicht, dass sie ein Kopftuch trägt, dass sie einem anderen Mann nicht die Hand zum Gruss reicht oder dass sie im gemeinschaftlichen Gebet sich hinter die Männer platziert. Wenn ich das sage, so äussere ich damit keine Kritik an traditionsgebundene Menschen. Ich habe selbst durchaus einen Hang zum Traditionellen, und Frauen mit Kopftuch finde ich schön. Ich darf mir aber nicht erlauben, von anderen Menschen religiöse Formen zu fordern, die sie nicht wollen.
Somit kann ich keinesfalls als Mass dienen für das, was zum Beispiel immigrierte Muslime mit orientalischer Kultur oder Konvertiten in sozial schwierigen Verhältnissen in der Schweiz antreffen und erleben. Ich kann mich ohne weiteres in allen Auseinandersetzungen behaupten und weiss auch, wie mit schwierigen Beamten umzugehen. Mein Muslim-sein in der Schweiz ist alles andere als ein Problem. Vielmehr kann ich von mir sagen, dass ich in den Auseinandersetzungen mit den Gesellschaftsfragen, den Nachbarn und Bekannten, aber auch mit mir selbst ein Terrain gefunden hatte, wo ich innerlich wachsen konnte – und dafür bin ich Gott unendlich dankbar.
Wir mögen darüber diskutieren, warum die Bibel und der Koran den Frauen einen weniger valablen Platz einräumt als den Männern; wir mögen durch den Missbrauch der Religion zu Gunsten des Terrorismus erschüttert sein; wir mögen um die Erkenntnis ringen, welche der Religionen die richtige ist – Seine Grösse werden wir nie ermessen; Seine Logik werden wir nie verstehen; Seine Wirklichkeit werden wir nie erfassen. Es gibt nicht „die richtige Religion“, denn jeder unserer noch so intelligenten Gedanken und jede noch so überlegte Handlung unterliegt unserer Beschränkung. Eigentlich tun wir ja auch als Gläubige nichts anderes, als Wasser kübelweise ins Meer zu tragen, und so etwas macht nur dann Sinn, wenn dies in sich den Akt des Lobpreisens Gottes beinhaltet. Gott spricht: „Ich war ein verborgener Schatz und sehnte mich danach, erkannt zu werden. Also schuf ich die Welt, als dass ich erkannt würde.“ Diese Welt ist letztendlich nur dafür da, um Gott zu loben und zu preisen.
Gott hat in jedem von uns die Sehnsucht nach Ihm eingepflanzt, und was zählt, ist ein reines Herz, welches das Licht Gottes unverzerrt zu widerspiegeln vermag. Der individuelle Ausdruck der Gläubigkeit ist nur Instrument für das ständige und notwendige Polieren des Herzensspiegels. Ob „orthodox“ oder „liberal“ hat nichts damit zu tun, wie schön und spirituell ein Mensch ist oder sein kann. Die Augen sind die Fenster zum Herzen, und ich bin dankbar für jede Begegnung eines gläubigen Herzes, denn dies erlaubt mir, mich selbst in dessen Spiegel wiederzufinden.
Und Ihnen, verehrte Damen und Herren, danke ich herzlich für die Aufmerksamkeit.