Vertrauen in die Ungewissheit

Wir wissen nicht, wie die Wirklichkeit nach dem Tod sein wird. Die heiligen Bücher sind darüber weder eindeutig noch klar, wir können nur spekulieren. Auch diese Zeilen können Sie, liebe Leserin, lieber Leser, als Spekulation verstehen: ich offeriere Ihnen Bilder und Modelle aus den Überlieferungen, die uns näher an eine Wirklichkeit führen wollen – ein Wagnis ganz im Wissen, dass diese Wirklichkeit letztendlich doch wieder ganz anders ist. Ist das sinnvoll? Ja, denn Sie sind befähigt, Paradoxe, Undurchsichtigkeit und Hilflosigkeit auszuhalten. Glauben Sie mir: in der Ungewissheit verbirgt sich viel Schönheit. Auch das will ich Ihnen etwas näher bringen.

Eine metaphysische Beheimatung in einer höheren Ordnung ist für uns Menschen lebensnotwendig. Der Schweizer Philosoph und Publizist Ludwig Frank Hasler drückte das prägnant aus:

Die Religion fehlt uns allen. Ich bin überzeugt, dass das aktuelle gesellschaftliche Experiment, ohne Religion und ohne einen Gott zu leben, scheitern wird. Es ist eine kolossale Selbstüberschätzung zu glauben, ohne Transzendenz auszukommen. ….. Wenn ich für mich das Wichtigste bin, bin ich auf verlorenem Posten, denn ich werde mit Sicherheit sterben. Sinn entsteht nur, wenn ich teilhabe an etwas, das nicht mit mir verschwindet.[i]

In den letzten 250 Jahren löste sich die Zivilgesellschaft des sogenannten Westens von den einst mächtigen Kirchen und errang eine Form des Zusammenlebens, die ohne Religion auszukommen glaubt. Die Religion ist weitgehend zur Privatsache geworden. Theokratische Gesellschaftsformen werden ihre Macht bald mal verlieren. Ob dies zum Besseren wird, sei mal dahingestellt, doch sicher taugen Lebensformen der entfernten Vergangenheit nicht mehr als Modell für den Zusammenhalt und die Führung heutiger Gesellschaften. Das Näherrücken der Menschen dank dem Internet trägt das seine bei – Individualismus ist hoch im Kurs. Nichtsdestotrotz wird die Politisierung des Religiösen in der einen oder anderen Form immer existieren.

Sich selbst spüren, sich selbst ernst nehmen, sich selbst lieben und somit einen Wert in sich selbst erkennen sind omnipräsente Themen in unserer individualistischen westlichen Gesellschaft. Wer denn möchte sich nicht wertvoll fühlen! Doch sich wertvoll fühlen bedingt eine Beziehung zu den Werten anderer Menschen, bedingt die Einbindung in eine Werte-Gemeinschaft. Die sozialen Medien nutzen dieses Bedürfnis und gaukeln eine neue Werte-Gemeinschaft vor, eine virtuelle Welt mit Beziehungen zu “Freunden” in den sozialen Medien. Doch was sind das für Freundschaften? Ist eine echte Freundin, ein Freund nicht ein Mensch, dem ich vertrauen und auf den ich mich in der Not verlassen kann? Furchtbar dünkt mich der Freundschaftsbegriff in den sozialen Medien! Solches führt weder zu Freiheit noch zu Stabilität, sondern eher zu einer Überforderung und Vereinsamung der Individuen sowie zu einer weiteren Vereinnahmung durch virtuelle Welten.

Der Mensch muss sich irgendwo vertrauensvoll festhalten können, das kann er nicht in virtuellen Welten mit virtuellen Freunden, und er kann das auch nicht in einer selbst bestimmten individualisierten Spiritualität! Sich ohne ideelles Zuhause selbständig spirituell unterwegs zu fühlen, ohne in einem religiösen System, einer Religion eingebunden zu sein, ist aus meiner Sicht kurzsichtig. Im Gespräch mit solchen Menschen sehe ich meistens eine tief sitzende Bedürftigkeit nach einem stabilen Blick- und Standpunkt, die aber vom starken Wunsch nach einer freien individuellen Spiritualität zugedeckt wird. So reagieren sie denn schnell und freudig auf angebotene Lehren, die eine “nicht konfessionelle überreligiöse Ausrichtung” zu vermitteln versuchen. In unzähligen Versen bezeichnet Mevlana die Haltung von solchen “sich frei fühlenden” Menschen als Gefangene im eigenen Selbstverständnis.

Die Lage der Menschen ist ganz genau so: Sie denken, sie seien mit dem Leib verbunden oder bestünden durch den Leib. In solcher Fantasie haben sie sich verloren; denn solange sie sich nicht eifrig bemühen, wird Ihnen das nicht enthüllt, und das zu wissen, beruht auf Askese und innerem Kampf.[ii]

Religion schöpft aus dem Formlosen und schält in den Formen der Kultur das Moralische und Sinnvolle heraus; sie muss ein Dienst am Menschen sein, dank welchem er im Weltlichen ein sinnvolles Dasein entdeckt kann. Freilich, es gibt keine einzige Religion, die nicht aus der einen oder anderen Sicht kritisiert werden könnte. Ich löse diese Schwierigkeit mit dem Annehmen des Propheten Muhammad als “Siegel der Propheten”.[iii] Das heisst, dass mir der Islam genügt, auch wenn viele Fragen nicht schlüssig beantwortet sind; er stellt mir das Notwendige zur Verfügung, um mein Leben an der letztendlichen Wahrheit zu orientieren. Aber warum sagt denn Muhammad: Strebt nach Wissen und sei es in China?[iv] Weshalb sagt er, wir sollen weiter suchen, auch wenn die koranische Offenbarung für den gläubigen Muslimen genügt? Ich verstehe das als Aufforderung, immer wieder neu zu erkennen, was das Offenbarte in der aktuellen Zeit bedeutet. Trotz meiner Beheimatung im Islam darf und soll ich meiner Vernunft nachgehen.

Im Koran[v] steht geschrieben, dass jedes Volk seinen Gesandten hat. Waren Buddha und andere Religionsgründer etwa nicht Gesandte Gottes? Ich lese im Koran die Aufforderung, anderen Religionen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Das kann ich, wenn ich meine eigene Ungewissheit akzeptiere und mit ihr lebe. Es erstaunt mich immer wieder, wie schnell Muslime beim Diskutieren in eine Art Fan-tum für ihr Propheten-Bild oder ihren Scheich geraten, in einen missionarischen Eifer, wo es nur um Rechthaberei geht und jegliche ernsthafte Diskussion verunmöglicht wird. Aus meiner Sicht ist ein Dialog nur dann erfolgreich, wenn alle Beteiligten sich ihrer Teilwahrheit bewusst sind und die damit verbundene Ungewissheit bekunden.

Ob er nun so ist oder so, da er Gott sucht, zieht ihn Gottes Anziehungskraft zu Gott. Ob er Gott für etwas anderes als Ihn liebt, damit er dauernd an Seiner Güte teilhaben kann, oder ob er Gott um Seiner Selbst liebt, für nichts ausser Ihm, in Furcht vor der Trennung von Ihm – Streben und Suche beider kommen von derselben Quelle.[vi]

In die Vergangenheit blickend sehe ich mich in fortwährender Ungewissheit. Bis Ende der 70er-Jahre versuchte ich, diesen beängstigenden Umstand durch Wissen und Erkenntnisse zu eliminieren. Darauf folgte das Eingehen in die islamische Gläubigkeit im vertrauensvollen Entspannen und Loslassen von angehäuftem Wissen. Mehr und mehr sah ich Schönheit im Ungewissen und Einöde im Bestimmten. Doch erst in einer weiteren Phase meiner inneren Entwicklung einhergehend mit der Vertiefung in die Lehre Mevlanas und dem Üben der traditionellen Exerzitien wuchs in mir die Kraft für ein handfestes Annehmen der Ungewissheit und für das Vertrauen auf Gottes unendliche Barmherzigkeit.

Heute ist mir klar, dass Wahrheit und Wirklichkeit nicht in meinen inneren Bildern liegen, sondern im verborgenen Hintergründigen. Je mehr ich mich vertrauensvoll diesem Hintergründigen annähere, desto stärker verblassen die mich führenden Bilder. Mir bleibt das Fallen auf die Knie und das hingebungsvolle Verbeugen vor Gott in Dankbarkeit für Seine Grosszügigkeit und Gnade. Mevlanas mystische Gedichte unterstützen mich:

Ich sehe die Atome mit offenen Mündern; wenn ich über ihre Nahrung reden würde, würde es lange dauern.
Gottes Grosszügigkeit ernährt die Nahrung; Seine Allumfassende Gnade ist die Ernährerin der Ernährer.
Er verleiht den Gaben Gaben, denn wie könnte Weizen ohne Verpflegung aus dem Boden schiessen?
Die Erklärung dieser Angelegenheit findet kein Ende. Ich habe einen Teil erzählt, du magst die verbleibenden Teile selbst finden.
[vii]

Der Koran weist immer wieder darauf hin, dass Gott grösser ist als irgend etwas. Allâh-hu Akbar (Gott ist gross) drückt dies aus. Im vollständigen Annehmen dieser Tatsache verblasst meine Angst vor dem Ungewissen; das Glaubensbekenntnis La ilaha il-Allâh, Muhammad ar-Rasul Allâh (es gibt keine Gottheit ausser Gott, Muhammad ist Sein Botschafter) wird zu meinem unumstösslichen Anker. Der erste Teil drückt aus, dass ich Gott nie erkennen, erfassen oder erreichen werde; ich vermag nur zur Seite stellen, was im Weg steht, damit Er Sich mir zuwenden möge. Und der zweite Teil drückt aus, dass ich in der prophetischen Tradition genügend Lehren und Gebote  vorfinde, um den mir im Weg stehenden Unrat zu beseitigen.

Spätestens mit dem Alter kommen uns etliche Fähigkeiten abhanden, und dann fällt es uns immer schwerer, das hart erarbeitete Bewusstsein zu erhalten. Wie schön ist es doch, dass wir nicht nur körperlich, sondern auch geistig schwach werden dürfen, geborgen in einem von anderen mitgetragenem spirituellen Zuhause! Ohne spirituelle Heimat löst der Kontrollverlust schnell mal Angst und Verzweiflung aus. Ich bin zutiefst dankbar, dass ich durch die Güte Gottes meine religiöse Heimat gefunden habe, und das wünsche ich auch Ihnen, liebe Leser und Leserinnen. Ob ich im Alter bis zu meinem letzten Atemzug bewusst im Hier und Jetzt präsent bin, oder ob ich über mehrere Jahre eine Demenz durchleben muss, ist unbedeutend geworden. Mevlana tröstet mich mit seinem eigenen Erleben:

Als ich anfing zu dichten, war es ein gewaltiger Drang, der mich dichten liess. Damals wirkte der Drang sehr stark; aber auch jetzt, wo der Drang schwächer geworden ist und abnimmt, hat er noch eine gewisse Wirkung. So ist die Gewohnheit Gottes des Erhabenen. Wenn die Dinge aufgehen, pflegt Er sie, und dadurch erscheinen gewaltige Wirkungen und viel Weisheit, aber auch beim Abnehmen besteht noch die gleiche Fürsorge. “Herr des Ostens und des Westens”[viii] bedeutet: Er pflegt die aufgehenden und untergehenden Antriebe.[ix]

(Zitate aus dem Mesnevi mit freundlicher Genehmigung durch die Übersetzergemeinschaft Bernhard Meyer, Kaveh und Jilla Dalir Azar)

[i] Zeitschrift Reformiert Nr. 12/Dezember 2019.

[ii] Fihi ma fihi, Rede 62

[iii] Koran 33:40

[iv] Überliefert von Muslim ibn al-Haddschâdsch (gest. 875).

[v] Koran 10:47

[vi] Mesnevi 3:4597 ff

[vii] Mesnevi 3:26 ff

[viii] Koran 26:27

[ix] Fihi ma fihi, Rede 52