Impuls zur Eigenverantwortung (April 2014)

Impuls zur Eigenverantwortung

(Von Peter Hüseyin Cunz für die Hauszeitung des Lassalle-Hauses)

 

Gott erschuf Adam aus Lehm und hauchte ihm den Geist ein. Dann versammelte Er alle Seine Engel und erklärte ihnen, dass der Mensch das höchste erschaffene Wesen sei und im Zentrum Seiner Schöpfung stehe. Und Er forderte von Seinen Engeln, dies zu bezeugen und sich vor Adam niederzuwerfen. Alle taten dies, ausser Azazil. Gott erzürnte und warf den widerspenstigen Engel aus dem Paradies, worauf dieser begann, Adam und Eva zu verführen, bis sie beide von der Frucht des verbotenen Baumes assen und damit ebenfalls aus der paradiesischen Einheit fielen.

Im Gegensatz zu den Engeln sind wir Menschen mit einer selbstbestimmenden fühlenden Seele ausgestattet und den wunderbaren Fähigkeit der Vernunft, des Reflektierens, des Infrage Stellens und des Formulierens. Mit diesen Eigenschaften machte uns Gott zum höchsten Wesen Seiner Schöpfung, und damit übertreffen wir die Engel, die lediglich ausführende Kräfte Gottes sind. Ein Engel studiert nicht und wägt nicht ab; sein Wunsch ist einzig das, was Gott von ihm will. Wir Menschen hingegen sind mit einem eigenen Willen ausgestattet.

Aber damit lastet eine grosse Verantwortung auf uns, und oftmals sind wir machtlos. In Anbetracht der Grässlichkeiten, die wir aus den Medien erfahren, und unserer Hilflosigkeit fragen wir uns: „Was ist das für ein Gott, der solches zulässt?“ Doch wäre es nicht besser zu fragen: „Warum lassen wir Menschen zu, dass solches geschieht?“

Beim Konsultieren des heiligen Korans werden wir häufig an unsere Eigenverantwortung erinnert. Doch an mehreren Stellen wird uns auch gesagt, dass Gott entscheidet, wer auf den richtigen Weg kommt und wer sich verirrt. Hier unsere eigene Zuständigkeit, und da Gott, der Sich zuständig erklärt: eine Gleichung, die nicht lösbar ist! Aus diesem Grunde beten wir Muslime mehrmals täglich die Fatiha, in der wir Gott um Rechtleitung bitten; und die Christen bitten im Vater-Unser darum, von Gott nicht versucht zu werden. Diese zentralen und sich sehr nahe stehenden Gebete stehen uns zur Verfügung, um die Verantwortung für unser Leben und unser Tun zu tragen, auch wenn wir im Ungewissen sind und vieles nicht selbst bestimmen können. In diesem Tragen wird unsere Würde und Grösse als Mensch sichtbar. In dieser verantwortlichen Haltung dürfen wir sagen: „Ich bin Mensch!“

Im Gefühl der eigenen Zuständigkeit sucht unsere Seele ständig nach Identität, nach einem Ich-Gefühl, um sich in dieser Welt als selbständiges Wesen zu positionieren. Auch wollen wir einen Sinn in unserem Leben erkennen, damit wir mit unserem Handeln im Frieden sind. Können wir eigenständig diesen begehrenswerten Zustand erreichen neben Gott, der Sich für alles zuständig erklärt? Aus der islamischen Überlieferung kennen wir einen viel zitierten, praktischen Hinweis:

Zur Zeit des Propheten eilte ein Beduine auf seinem Kamel zur Moschee, wo der Prophet seine Freitags-Predigt abhalten sollte. Er war verspätet und musste noch einen Platz finden, um sein Kamel anzubinden. Er fragte den Propheten, ob er sich darauf verlassen könne, dass das Kamel nicht weglaufe, während er den Worten Gottes zuhöre. Und der Prophet antwortete: „Binde zuerst dein Kamel an, und dann vertraue auf Gott.“

Was bedeutet das für uns? Gott lädt uns ein, unsere zentrale Stellung in Seiner Schöpfung zu erkennen und die von Ihm zur Verfügung gestellten Fähigkeiten zu nutzen: Was sagt unsere Logik und die Vernunft? Wie steht es mit gemachten Erfahrungen? Was sagen die Gefühle? Was hören wir von anderen Menschen, und was steht in den Schriften? Haben wir all das überprüft und jeden Stein umgedreht, dürfen wir ins Gebet gehen und um Hilfe bitten. Und was immer wir anschliessend entscheiden, ist das Richtige. Auch wenn dieser Entscheid zu Schwierigkeiten führt – er war der Richtige!

Und wenn wir trotz solcher Hinweise weder ein noch aus wissen und uns fragen: „Was soll das alles?“, dann tröstet uns der heiligen Koran (50:16):

Und wahrlich, Wir erschufen den Menschen, und Wir wissen, was ihm seine Seele zuflüstert, denn wir sind ihm näher als die Halsader.