Über die Wahrnehmung des Propheten (Dezember 2016)

Eingangs-Referat des Kongresses am 15. Dezember 2016 in Konya

(Peter Hüseyin Cunz)

 

Gesegnet sei unser Prophet Muhammad, der uns als Vorbild dient! Der Friede und Segen Gottes begleite ihn und seine Angehörigen!

 

Ich danke den Behörden von Konya und den Organisatoren, dass ich hier eingeladen bin. Ich danke der Familie Çelebi, dass sie das Erbe Hz. Mevlanas behütet hat und uns nun auch in Europa und anderswo in der Welt die Möglichkeit gibt, den Propheten Muhammad und sein Licht zu verstehen!

 

Wenn Islam im 7. Jd entstanden ist, was bedeutet das für die Wissenschaft der Evolution, die moderne Physik und Psychologie? Oder war Islam schon immer?

Wenn Muhammad das Siegel der Propheten ist, was bedeutet dies für 1 Mia Chinesen, 1 Mia Christen, 1 Mia Hindus und mehrere Mia Rationalisten? Oder ist Gott auch ihnen „nahe wie die Halsschlagader“? (50:16)

Muslime bekriegen Muslime, intelligente Theologen führen Deutungskriege gegen andere intelligente Theologen. Muslime bauen Mauern auf, statt die Hand zu reichen. Was bedeutet das für den Islam von heute, der uns doch den Weg über die Grenzen des Begreifens weisen sollte?

Das sind Fragen, auf die ich eine überzeugende Antwort haben muss, wenn ich Europäer von der Universalität des Islams überzeugen will.

Mit dem Internet ist die Welt sehr klein geworden: die Ethik und die Gesellschaftsregeln sind völlig anders als im 7. Jh. auf der arabischen Halbinsel. Heute wird die Sklaverei als unethisch abgelehnt, und heute ist es nicht mehr tolerierbar, dass die Frau in der Verfügungsgewalt des Mannes steht. Das muss ich berücksichtigen, wenn ich Europäer von der Universalität des Islams überzeugen will.

 

Liebe Brüder und Schwestern, die Zeit ist eine relative Grösse. Sie ist an die Gravitation gebunden und ändert sich je nach Zustand der Materie. Wenn wir uns dem Göttlichen nähern, verschwindet die Zeit. Dies wussten die grossen Heiligen wie Mevlana sehr wohl. Die Deutung des Islams auf seine historische Entstehung zu reduzieren raubt ihm seine Universalität.

 

Mögen wir den Mut haben, uns auf eine universelle Sicht des Islams einzulassen. Gott ist nicht nur den Muslimen nahe. Hören wir auf, unseren Gott auf das beschränkte Verständnis der Theologen des Mittelalters zu reduzieren! Lasst uns das Licht Muhammads auch im Christen, im Buddhisten, im Hindu und im Rationalisten erkennen! Reichen wir uns die Hand, ob Muslim, Christ, Buddhist, Hindu oder Rationalist. Lasst uns dankbar staunen, lasst uns gegenseitig in die Herzen blicken, und beugen wir uns gemeinsam mit den Andersgläubigen vor dem unbegreiflichen Hintergründigen und Letztendlichen, das wir Muslime Allah nennen!

 

Liebe Brüder und Schwestern, ich bin ein dankbarer Gast in Konya und möchte darum mit einem Vers von meinem Pir abschliessen, der sich im ersten Buch des Mesnevi befindet:

 

Du bist ein Götzenverehrer, wenn du an der Form hängen bleibst, lasse die Form und schaue auf die Wirklichkeit.

Wenn du ein Mann für die Pilgerreise bist, suche einen Mitpilger, sei es ein Hindu oder ein Türke oder ein Araber.

Schau nicht auf seine Gestalt und seine Farbe, schaue auf seinen Plan und seine Absicht.

Wenn er schwarz ist, stimmt er doch mit dir überein; nenne ihn weiss, denn seine Farbe ist die gleiche wie die deine.

(Mesnevi 1:2893-2896)

 

Amen

 

 

Konferenz-Text

 

Gelobt sei Gott (Allah), mit dessen Lobpreisung jede Offenbarung beginnt! Gepriesen sei Gott, der dem Suchenden Sein Angesicht offenbart, der Sehkräfte aufschliesst, der Geheimnisse enthüllt und der Schleier hebt! Gesegnet sei der auserwählte Muhammad und alle Gesandten und Propheten vor und nach ihm, die Träger der Prophetie und Offenbarungen sind! Der Friede und Segen Gottes sei mit ihnen sowie ihren Angehörigen und Gefährten, die zum Rechten leiten!

 

Dieser Fakir wurde gebeten, etwas über den Propheten Muhammad zu schreiben. Er muss aber feststellen, dass er das nicht aus eigener Kraft vermag. Mit Gottes Hilfe, im Vertrauen auf Ihn und bei Ihm Zuflucht nehmend, wird er über seine Gedanken und Erfahrungen berichten.

 

O Ihr Gesandten und Propheten, zu denen wir hinaufschauen, und die wir mit unserer beschränkten Sicht nie gänzlich erfassen können! Warum ist so viel Hass und Gewalt zwischen Gläubigen, die Euch lieben? Ja, wir haben Euch unwürdig betrachtet und Euch mit unseren menschlichen Vorstellungen vereinnahmt und reduziert!

 

Ist es nicht eine Selbstüberschätzung, über den einen oder anderen Propheten zu argumentieren und sich damit das Recht zuzuschreiben, abweichenden Ansichten mit Gewalt zu begegnen? Ihr Propheten und Gesandten seid doch allesamt Auserwählte Gottes! Gott der Erhabene hat Euch zu Seinem Licht und Seinen Instrumenten gemacht; unser Verstand vermag dieses Geheimnis nicht zu durchblicken. „Die Gesandten und Gläubigen machen keinen Unterschied zwischen den Gesandten Allahs“ (ayat 2:285).

 

Gott sei dafür gedankt, dass in jeder Lebenssituation eine Möglichkeit besteht, von Ihm Hinweise zu erhalten. „Wohin ihr euch auch wendet, dort ist Gottes Angesicht“ (ayat 2:115). Gottes Transzendenz ist ständig offenbar: für Augen, die sehen, und für Ohren, die hören. Und allein der unergründliche Gott weiss, wann und warum Er von Zeit zu Zeit Propheten oder Gesandte bestimmt, die für ein Volk Seine Schönheit und Macht sichtbar machen. Dieser Fakir sieht die auserwählten Propheten und Gesandten als lebendige Schnittstelle zwischen dem Jenseits und dem Diesseits.

 

Es ist eine typisch menschliche Eigenschaft, dass wir alles mit unserem linearen Zeitgefühl bewerten. Früher kannten die Menschen nichts anderes; für sie war alles historisch zu sehen in einer linearen unveränderbaren Zeitfolge. Einsteins Relativitätstheorie und die Quantenphysik waren damals noch nicht bekannt. Immer wieder gab es Zeiten, wo die Menschen in ihrem Elend davon überzeugt waren, dass das Letzte Gericht Gottes nahe sei. In diesem Gefühl haben vor 2000 Jahren einige jüdische Menschen sich vorgestellt, dass Jesus der Messias (Christus) sei. Als dann das Weltende doch nicht stattfand, entwickelten sie das Konzept des erlösenden und Heil bringenden Gottessohns. Die traditionellen Juden ihrerseits klammern sich weiterhin an historische Begebenheiten ihrer Religionsgeschichte und schreiben sich dadurch noch heute gewisse Rechte in Palästina zu.

 

Und wir Muslime, handeln wir besser? Dieser Fakir ist der Meinung, dass wir ähnliche Fehler machen. Den Islam an historische Ereignisse zu binden bedeutet eine Einschränkung der Göttlichen Offenbarungen in ein veraltetes lineares Zeitverständnis. Dies ist in der heutigen Zeit nicht mehr tolerierbar, denn die Zeit ist mit der Gravitation verbunden und erscheint nur im normalen Alltag der materiellen Welt linear. In Momenten ohne Körpergefühl, wie beim Gebet, Dhikr oder Meditation verschwindet dieses Zeitgefühl und macht Platz einem Gefühl der Ewigkeit und Zeitlosigkeit. Islam ist universell und nur bedingt an die Zeit gebunden; Islam war immer und wird immer sein! Alle drei monotheistischen Religionen liessen sich dazu verleiten, historische Begebenheiten zum Gesetz zu erheben. Jüdische und christliche Mystiker sowie unsere Sufi-Heiligen wehrten sich dagegen und versuchten, den Theologen und Gesetzeshütern einen Spiegel vorzusetzen.

 

Was die Vertreter des Judentums, des Christentums und des Islams in den letzten Jahrhunderten angerichtet haben, führte im aufgeklärten Europa zu Enttäuschung und Skepsis. Nun ist dieser Fakir in Europa oft damit konfrontiert, solch skeptischen Menschen die Gültigkeit des Islams und dessen Schönheit begreifbar zu machen. Wie kann ein Europäer überzeugt werden? Dies geht nur über logische und von der Vernunft geleitete Argumente. Meistens beginnt die Argumentation mit dem Grundprinzip der monotheistischen Religionen, welche Gottes Schöpfung in zwei Welten, dem Diesseits und dem Jenseits unterteilen. Die zwei Welten bedürfen und bedingen sich gegenseitig und geben sich gegenseitig Sinn. Als nächstes wird erklärt, dass die Propheten sichtbare Schnittstellen zwischen diesen zwei Welten sind. Einige unter ihnen waren Überbringer neuer Offenbarungen (Rasul Allah).

 

Moses war beauftragt, eine solide und gottgefällige Gesellschaft zu schaffen. Mit den überbrachten Gesetzestafeln initiierte er den Grundstein dafür. Er war das sichtbare Beispiel eines Führers für ein ungebildetes Volk, das sich innerhalb einer Gesetzesreligion geborgen fühlt.

 

Jesus war das grosse Beispiel für ein Leben in direkter Verbundenheit mit dem Jenseits, durch das sich Gott im Menschen manifestiert (Christus). Zum Ärger der Gesetzeshüter öffnete er den Menschen die Augen fürs Jenseits. Er verkündigte Absolutes, was nur vollkommene Menschen (insan-i kamil) verwirklichen können.

 

Muhammad war die Synthese von Moses und Jesus. Damit ist er das Siegel der Propheten. Sowohl die Ausrichtung der Juden nach dem Gesetz als auch das christliche Bestreben nach direkter Berührung mit Gott hat sich im Leben Muhammads manifestiert. In der Nacht der Macht (leylat al-qadr) wurde er zum Koran, dem vorgetragenen Wort Gottes. Zusammen mit den damaligen historischen Ereignissen im Leben Muhammads steht er im Mittelpunkt dieser Offenbarung. Er lebte vor, wie wir mit einem Fuss in dieser und mit dem anderen Fuss in der anderen Welt den geraden Weg begehen können: ein Fuss bei Moses und der andere bei Jesus.

 

Doch wir können die Handlungen des Propheten nur dann verstehen, wenn wir ihn im Kontext des damaligen Geschehens begreifen. Was war die eigentliche Absicht seiner Entscheidungen und seines Handelns? Ohne Antwort auf diese Frage riskiert unsere Nachahmung fehlgeleitet zu sein. Die Gesellschaftsformen und das Rechtsverständnis waren damals anders. Es gab Sklaven, die Frau war in der Verfügungsgewalt des Mannes, und die Stammesregeln forderten bei einem Vergehen schwere Körperstrafen. Das war damals alles normal, doch heute ist dies nicht mehr zulässig. Als Muslim sind wir dazu verpflichtet, von der Vernunft Gebrauch zu machen. „So machen wir die Zeichen klar für ein Volk, das nachdenkt“ (ayat 10:24).

 

Das direkte Erleben Gottes und die Ethik fürs Zusammenleben werden im Islam vereint: La il-aha il-Allah, Muhammad ar-Rasul Allah. Mit dem Islam ist die monotheistische Religion vervollkommnet worden. Der vernünftige Mensch ist durch den Islam befähigt, den individuellen Bezug zu Gott zu suchen, ohne auf Abwege zu geraten. Somit ist innerhalb der monotheistischen Prophetenlinie kein neuer Gesandter mehr nötig, denn was der Islam überliefert, bietet alles, was ein Individuum benötigt.

 

So ungefähr versucht dieser Fakir in Europa zu argumentieren. Was ihm am meisten Schwierigkeiten macht, sind nicht etwa die skeptischen Zuhörer, sondern die vielen Muslime, welche die Grossartigkeit und Universalität der islamischen Offenbarung nicht verstehen und in Abgrenzung zu anderen an einer historisch bedingten Gesetzesreligion festhalten. Der Hass und Krieg unter Muslimen ist ein lebendiger Beweis für unsere beschränkte Sicht und unseren mangelnden Willen, Gottes Grösse und Universalität anzunehmen. Der Argwohn der Europäer gegen den politischen Islam ist berechtigt.

 

Wie wollen wir Kurzsichtige die Unendlichkeit, Ewigkeit, Allmacht und Schönheit Gottes deuten? Seien wir dankbar für Seine Zeichen, und lasst uns absehen vom Versuch, Ihn abschliessend begreifen zu wollen! Es sind die Undankbaren, die ungläubig sind, nicht die Anhänger von dieser oder der anderen Religion. Warum sehen wir in der Gesetzestreue der Juden und dem Christus der Christen nicht das Licht Muhammads (nur-i Muhammadi)?

 

Möge der Leser dieser Zeilen Gott für diesen Fakir um Verzeihung bitten, falls mit diesen Worten das gebotene Mass überschritten wurde! Der Schreibende fühlt sich lediglich als Staub unter den Füssen von Hz. Mevlana, der selbst von sich sagt, dass er der Staub unter den Füssen des Propheten sei. Frieden sei über Muhammad, seinen Angehörigen und Gefährten!

 

 

Zitat aus dem Mesnevi mit freundlicher Genehmigung durch die Übersetzergemeinschaft Bernhard Meyer, Kaveh und Jilla Dalir Azar.