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Die Kraft des Ritus am Beispiel der Sufi-Praxis (April 2016)

(Referat „Die Kraft des Ritus“ vor den Freimaurern Osiris, Basel 14. April 2016, von Peter Hüseyin Cunz)

 

Sehr verehrte Damen und Herren:

Die fünf Grundideale der Freimaurerei sind, so wurde mir das erklärt, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität. Sie sollen durch die praktische Einübung im Alltag gelebt werden. Als Mitglied eines Sufi-Ordens, der sich dem Islam verpflichtet, empfinde ich grösste Anerkennung für solche Ideale. Aus meiner Sicht müssen sich religiöse Ideale an solchen Merkmalen messen. Ansonsten ist Religion nur eine eitle Fantasie, die dem eigenen Ego dient.

 

Mit meiner Bewunderung für Ihre Ideale danke ich Ihnen für die Einladung. Gerne informiere ich Sie über die Prinzipien des Sufismus. Da Sie Ihre Gemeinschaft mit Riten festigen, werde ich den Schwerpunkt meines Referates auf die Bedeutung des Ritus setzen. Natürlich gehe ich davon aus, dass Sie den Sinn und Zweck unserer Welt – wir sprechen von der „Schöpfung Gottes“ – in einem grösseren Zusammenhang sehen. Ich bin davon überzeugt, dass jeder und jede von Ihnen, die sich den Idealen der Freimaurerei verpflichten, wenigstens am Rande etwas Übergeordnetes akzeptieren, denn nur so können Sie sich vom Naturell des Menschlichen, das aufs eigene Überleben und Leben konzentriert ist, distanzieren. Diese Bereitschaft nennen wir „Glaube“. Der Glaube gibt uns die Möglichkeit, auf etwas zu hoffen. Und in der Hoffnung erst werden wir zur Liebe fähig. So verstehe ich den christlichen Grundsatz: „Glaube, Hoffnung, Liebe“.

 

Ich bin Vorsteher eines islamischen Ordens in der Schweiz. Wir sind jene Gemeinschaft, die auch bei Nicht-Muslimen durch das Ritual der „Tanzenden Derwische“ bekannt ist. Über Sufismus und über unseren Ordensgründer Celaleddin Rumi gibt es reichlich Literatur in allen Sprachen. Einige Bücher in deutscher Sprache liegen zur Ansicht auf dem Tisch. Rumi lebte im 13. Jhd. und gilt noch heute als einer der grössten Mystiker und Heiligen des Islams. Er verfasste über 60’000 mystische Verse und Lehr-Sprüche, welche Grundlage unserers Ordenslebens sind. Die Verehrung für ihn ist im gesamten islamischen Raum enorm und auch darüber hinaus. Rumi wird allgemein mit dem Titel „Mevlana“ (oder „Maulana„) beehrt, was „unser Meister“ bedeutet. Darum nennt sich unser Orden „Mevlevi-Orden“. Was ich Ihnen über unser Verständnis dieser Welt vermitteln werde, ist weitgehend auch gültig für andere islamische Orden und für den Islam als Ganzes.

 

In unserer Vorstellung existiert eine „andere Welt“, die dem Diesseits Bedeutung und Sinn verleiht. Es ist eine Welt ohne Gebundenheit an Raum und Zeit. Und über beiden Welten – dem Diesseits und dem Jenseits – existiert eine Instanz, die wir „Gott“ oder „Allah“ nennen. Gott ist der Schöpfer von allem und für uns Menschen nicht vorstellbar. Jede vermeintliche Vorstellung von Gott führt zu Überheblichkeit. Darum steht ganz zu Beginn der Bibel als Grundsatz aller monotheistischen Religionen das Gebot: „Du sollst dir von Gott kein Bildnis machen“. Um dieses Unbegreifliche, das wir Gott nennen, dreht sich alles, was wir zu begreifen glauben. Gott verspricht im heiligen Koran jedem Menschen Seine Nähe:

 

Wir erschufen doch den Menschen und wissen, was ihm sein Inneres zuflüstert. Und wir sind ihm näher als seine Halsschlagader. (50:16)

 

Gemäss der monotheistischen Vorstellung erschuf Gott den Menschen aus Lehm und Geist. Und ich betone nochmals: Dieser Mensch – also jeder von uns hier – lebt in einer zweigeteilten Schöpfung, bestehend einerseits aus dieser Welt der Erscheinungen, dem Diesseits, und andererseits der hintergründigen Welt, dem Jenseits, das wir auch „die andere Welt“ nennen. Beide Welten sind gleichfalls zu respektieren! Es ist diese Zweiteilung der Schöpfung, die eine Dynamik offeriert, in welcher der Menschen näher zu sich selbst und damit zu Gott gelangen kann. Ausgedrückt in anderen Worten: Mit Hilfe des Äusseren, dem Diesseitigen, können wir zu unserem Inneren gelangen, und mit Hilfe des Inneren, das mit dem Jenseitigen verbunden ist, können wir das Äussere beeinflussen.

 

Der Mensch ist die eigentliche Verbindung der zwei Welten, und darum wurde Adam von Gott anlässlich Seines Schöpfungsaktes zum höchsten Wesen der Schöpfung erklärt. Der Weg der Sufis ist mit einem Fuss in dieser und mit dem anderen Fuss in der anderen Welt. Darum versucht er oder sie ständig, die Verbindung der zwei Welten zu sehen und zu realisieren. Dem Sufi geht es nicht ums Erreichen der anderen Welt mit den damit verbundenen Zuständen der Erleuchtung. Das zum einzigen Ziel zu nehmen empfinden wir als egoistische, nach Besonderheit strebende Ambition. Uns geht es nur darum, Gott zu dienen, wie auch immer ein solches Dienen verwirklicht wird. Und damit stehen wir Ihnen in der Freimaurerei sehr nahe. Im Koran steht:

 

Und die Dschinn (Geistwesen) und die Menschen habe Ich nur dazu erschaffen, dass sie Mir dienen. (51:56)

 

In Gottes Dienst sein heisst, in der Interaktion mit den Mitmenschen und der Umwelt Gutes zu erzeugen. In Gottes Dienst sein heisst, uns der allem übergeordneten Eigenschaft Gottes, der Barmherzigkeit (rahman) gewahr zu sein und diese im Rahmen unseres Vermögens weiterzugeben. In Gottes Dienst sein heisst, unser Handeln von unserer Vernunft leiten zu lassen und der Gesellschaft mehr zu geben als von ihr zu nehmen. In zahllosen Aussprüchen des Propheten Muhammad (hadith) wird dazu aufgerufen, einen guten Charakter zu pflegen und für andere nützlich zu sein, so zum Beispiel in den folgenden Versen:

 

Derjenige, den Gott am liebsten hat, ist der, der für Seine Geschöpfe am nützlichsten ist.
(überliefert nach Albânî, Hadith-Nr. 172, Übersetzung M. Khorchide)

oder

Derjenige, den Gott am liebsten hat, ist der mit dem besseren Charakter.
(überliefert nach Albânî, Hadith-Nr. 179, Übersetzung M. Khorchide)

 

Fragen wir uns doch: Was bedeutet konkret „für Seine Geschöpfe nützlich sein“, oder „einen guten Charakter haben“? Die Antwort liegt in hunderten von kleinen Details des Alltags während unserer Interaktion mit anderen Menschen: in der Familie, in der Berufsausübung, beim Einkauf, auf dem Weg im öffentlichen Verkehr, und so fort. Das „nützlich sein für Gottes Schöpfung“ ist sehr klar in den Idealen der Freimaurerei beschrieben.

 

Damit das „nützlich und gut Sein“ durch Mitgefühl, Empathie und mittels der Vernunft nicht durch persönliche Dränge und Ambitionen gestört wird, arbeiten die Sufis an der Reinigung ihrer Seele (nafs). Wir verstehen die Seele als Bereich zwischen dem in unserer Mitte existierenden esoterischen Herzen (qalb) und unserem Körper mit dem Wirken nach aussen. Unsere Seele mit ihren Schatten und Verfärbungen beeinflusst massgeblich unsere Handlungen. Darum besteht die Hauptarbeit auf einem spirituellen Weg darin, die Seele zu reinigen. Unser Ordensgründer Rumi sagt:

 

Dann mache es dir zur Gewohnheit – auch wenn du einen dunklen Körper wie Eisen hast – zu polieren, zu polieren, zu polieren;
Damit dein Herz ein Spiegel voller Bilder wird und dir aus jeder Richtung reizende weisse Schönheit zeigt.
Auch wenn das Eisen dunkel war und kein Licht besass, hat es durch Polieren doch die Dunkelheit verloren.
Das Eisen hat das Polieren ertragen, und seine Oberfläche wurde davon schön, und man kann Bilder darauf sehen.
Weil der Körper grob und dunkel ist, poliere ihn – denn er ist für das Poliermittel empfänglich;
Damit die Formen des Unsichtbaren in ihm erscheinen und der Widerschein von Hûrî und Engel auf ihn treffen. (Hûrî sind engelhafte Lichtgestalten)
Gott hat dir Poliermittel gegeben, die Vernunft, um die Oberfläche des Herzens glänzend machen zu können. …..

(Mesnevi 4: 2469 ff)

 

Unsere Seele wirkt wie ein Schleier vor dem esoterischen Herzen oder, in den zitierten Worten Rumis,  als Schmutz auf dem Spiegel. Wenn die Schleier beseitigt sind, wird das Herz sichtbar. Wenn die Seele gereinigt wird, wirkt sie wie ein Spiegel, in welchem sich das göttliche Licht widerspiegelt. Wenn unsere Seele beginnt, zum Spiegel zu werden, erkennen wir, dass unsere Gefühle, Gedanken und Taten nichts anderes als die Widerspiegelung dieses Lichtes sind. Je nach Beschaffenheit des Spiegels werden diese schön oder verzerrt oder hässlich sein. Darum sind wir aufgefordert, „unaufhörlich den Spiegel zu putzen“ oder – in anderen Bildern – die Schleier vor unserem inneren Herzen zu beseitigen.

 

Wir müssen das Polieren zulassen. Ohne die Bereitschaft, uns von unseren Meinungen, Fantasien und Tabus sowie unserem Selbstbewusstsein loszulassen, wird das Polieren des Herzens nicht geschehen. Gewiss: Wir sind Menschen und wollen als Mensch gesehen werden und über die Anerkennung den Sinn unseres Daseins spüren. Doch es ist kurzsichtig zu glauben, der Weg zur ersehnten Anerkennung sei durch forcierte Zurschaustellung von Fähigkeiten, Schönheit oder Dienstbarkeit. Der nachhaltige Weg dorthin ist über das Loslassen von sich selbst im Glauben an das Übergeordnete. Der grosse christliche Mystiker Meister Eckhart spricht vom „Entwerden“, und Rumi spricht in vielen Versen vom Ziel des „Nichtseins“, zum Beispiel im folgenden Gedicht:

 

Ich starb als Mineral und wurde zur Pflanze;
dann starb ich als Pflanze und wurde zum Tier.
Ich starb als Tier und wurde ein Mensch;
was sollte ich also fürchten? Wann hat mich der Tod geringer gemacht?
Beim nächsten Mal sterbe ich als Mensch, um mit den Engeln zu fliegen.
Und selbst als Engel muss ich weichen, denn „alle Dinge vergehen ausser Seinem Angesicht“ (28:88).
Und wieder werde ich geopfert und als Engel sterben;
ich werde etwas Unvorstellbares werden.
Dann werde ich zu Nichtsein;
Schön wie eine Orgel singt das Nichtsein zu mir: „Siehe, zu Ihm kehren wir heim“ (2:156).

(Mesnevi 3:3901 ff; siehe auch 4:3637 ff)

 

Nun, ohne die Hilfe eines schützenden Rahmens wagt sich kein normaler Mensch ans Loslassen, ans Entwerden von sich selbst. Darum ist die religiöse Gemeinschaft so wichtig. Wenn wir alleine sind, steht immer unser ambitiöses Ich im Weg. Schon jedes Bild, das wir von unserem erhofften zukünftigen spirituellen Fortschritt mit uns tragen, ist ein Hindernis. Es ist wie in der Hoffnungslosigkeit einer hoffnungslosen Verliebtheit, im letztendlichen Aufgeben aller Ambitionen, dass unser Herz sichtbar wird und Gott Seine Nähe in unserem Inneren zeigt. Diese Art der Hoffnungslosigkeit entsteht viel mehr durch zerstörte Pläne, Enttäuschungen und Schicksalsschläge, als durch eine geplante Meditation oder Retraite. Gott liebt uns nicht, weil wir viel meditierten, weil wir auf viel Erfahrung zurückblicken oder weil wir etwas zu wissen glauben. Viel mehr liebt Er uns in unserem Ringen, in unserem Kampf mit uns selbst, unabhängig von unserem äusseren Stand und Erscheinen.

 

Die Gemeinschaft unter Gleichgesinnten in einem religiösen Rahmen, zu der alle Propheten und Religionsgründer aufgerufen hatten, soll dem Suchenden auf seinem Weg Stütze und Schutz sein. Auch Rumi, der tausende von mystischen Versen gedichtet hat, die den Zustand eines offenen Herzens beschreiben, erinnert immer wieder daran, dass das Öffnen des Herzens nicht ohne einen schützenden und wegweisenden Rahmen möglich ist.

 

Wie oft wird doch gemeint, dass ein inneres Wohlgefühl, eine sich positiv anfühlende Stimmigkeit der Indikator eines aufgeweckten Herzens sei! Wie oft habe ich gehört: „Ich brauche keine religiöse Mitgliedschaft, ich folge meinem Herzen!“ Auch dies spricht Rumi mit deutlichen Worten an:

 

Verächtlich hast du Hilfe abgelehnt und gesagt: „Ich besitze ein Herz; ich brauche niemand anderen, ich bin mit Gott vereint.“
Das ist, als ob das Wasser die Erde verächtlich ablehnen und sagen würde: „Ich bin das Wasser, warum sollte ich Hilfe suchen?“
Du hast dir dieses verunreinigte Herz als Herz vorgestellt und folglich hast du dein Herz von den Herzbesitzern abgewendet.
Glaubst du wirklich, dass das Herz, das in Milch und Honig verliebt ist, jenes reine Herz ist?

(Masnavi 3:2260-2264)

 

Und damit ist es Zeit, einige Worte über die Kraft von Ritualen auszudrücken. Der Ritus ist als Erstes ein Schutz für das sich-gehen-lassende Individuum. Und als gesellschaftlich akzeptierter Ritus schützt er nicht nur vor dem verstörten Blick anderer Menschen, nicht nur vor dem Verlust der Reputation. Der Ritus schützt die Gottsuchenden auch vor negativen Geisteskräften, die sich selbst verwirklichen wollen und daher bestrebt sind, in die Seele eines Menschen einzudringen. Denn das Jenseits, von wo die spirituellen Kräfte in diese Welt der Erscheinungen dringen wollen, ist nicht nur gut. In der anderen Welt, im Jenseits, das als Hintergrund zum Diesseits wirkt, hausen nebst den engelhaften Wesen auch Teufel und Kobolde. Auch diese suchen in Konkurrenz zu den engelhaften Kräften nach sich öffnenden und ungeschützten Seelen, wo sie sich einnisten können. Wer mit Spiritismus, Magie und ähnlichen okkulten Wissenschaften in Berührung kam, weiss, in welche Gefahren ein Beteiligter oder eine Beteiligte sich begeben kann.

 

Wer ohne schützenden Ritus sich der anderen Welt öffnen will, kann das erreichen durch asketische Handlung oder einfach mit Hilfe von Drogen. Zur Hippiezeit war LSD der grosse Renner, und ich erinnere mich an mein Erstaunen, wie einige meiner Freunde beim Konsum von LSD ohne offensichtlichen Grund anfällig für „Horror-Trips“ waren, während andere gleichzeitig wunderschöne Erlebnisse genossen. Heute weiss ich: Es ist der Zustand der Seele, der die Auswirkung einer forcierten Öffnung bestimmt.

 

Was passiert, wenn mehrere Gleichgesinnte gemeinsam beten, singen, Exerzitien üben, meditieren oder auch gemeinsam sich in heilige Bücher vertiefen? In jedem Fall entsteht eine Kraft des Miteinanders, in der die Sehnsucht des Einzelnen verstärkt zum Ausdruck kommt.  Oder in anderen Worten: innerhalb des Rahmens, in dem das Ritual stattfindet, entsteht eine Art Vakuum, das die Kräfte aus der anderen Welt anzieht. Dieser Vakuum-artige Zustand entsteht aus der Summe aller loslassenden, sich innerlich leerenden Beteiligten.

 

Die Besucher des Rituals spüren das sofort. Es ist, als ob die Luft sich ändern würde, als ob der Raum sich mit Licht füllen würde. Alle werden davon berührt. Es bleibt eine tiefe Erinnerung an Momente, wo die zwei Welten sich eng berührten. Gerne erwähne ich zwei Beispiele aus unserer Praxis:

 

Unser Orden ist bekannt für das Ritual des Semâ, populistisch „Ritual der Tanzenden Derwische“ genannt. Dieses Ritual hat die Aufgabe, den um seine eigene Achse drehenden Derwisch in einen bleibenden Zustand der meditierenden Zentriertheit zu versetzen. Zugleich soll erreicht werden, dass das Ritual die anwesenden Besucher mit einbezieht und ihnen ein Erleben des Heiligen offeriert. Vier Mal im Jahr zelebrieren wir dieses Ritual in einer Kirche in Zürich. Die Rückmeldungen, die wir von den Besuchenden erhalten, sind sehr berührend.

 

Das zweite Beispiel, das ich erwähnen möchte, ist das weniger spektakuläre Ritual des Sohbet – eine gängige Praxis aller Sufi-Kreise. Es ist die Zeit, wo der Scheich ein Lehrgespräch führt. Die dabei strickte einzuhaltende Regel ist, dass jede und jeder Teilnehmende sich ganz in den Zustand des Zuhörenden versetzt und aufkommende eigene Meinungen in den Hintergrund verlegt. Niemand ist befugt, in dieser Zeit den Scheich mit eigenen Ideen, Gedanken und Meinungen zu unterbrechen. Dieses rituelle Arrangement erzeugt im Raum das bereits erwähnte Vakuum, welches die zwei Welten spürbar zusammenführt und so das Heilige sichtbar macht. Und erst dadurch entsteht beim Scheich jene Inspiration, welche die anwesenden Zuhörer direkt betrifft.

 

Nach einem Lehrgespräch wurde ich oft gefragt, woher ich wissen konnte, dass ich mit meinen Aussagen den wunden Punkt traf. Meine Antwort darauf ist immer die Gleiche: „Ihr Zuhörenden habt das durch Euer aktives Zuhören, durch Eure Leere erzeugt. Ich war nur ein Instrument dafür.“

 

Als weiteren Nutzen des Ritus möchte ich das Gefühl der Zugehörigkeit erwähnen. Der Ritus unterstützt die Teilnehmenden, sich als Teil von etwas Grösserem zu sehen. Weiter bietet er den Kontext, sich selbst definieren zu können und die eigene Existenz zu spüren. Die Teilnehmenden können sich selbst einen Wert zuschreiben, können sich als wertvoll sehen. Und so unterstützt der Ritus die Identitätsbildung, ohne die weder Orientierung noch Zielstrebigkeit möglich ist.

 

Die Sufis nutzen sozusagen als Instrument ganz bewusst die religiöse Identifikation, und zugleich lernen sie, dass jede Identifikation – auch eine religiöse – letztendlich eine Sackgasse ist. Jedes Identifizieren ist auch dafür da, es wieder loszulassen und sich im Sterben zu üben.

 

Ich habe erwähnt, dass wir Menschen danach streben, gesehen zu werden, und dass wir über die erhaltene Anerkennung den Sinn unseres Daseins spüren. Identitätsbildung ist für alle Menschen lebenswichtig, und selbstverständlich entsteht Identitätsbildung nicht erst durch religiös motivierte Rituale. Familienverbindungen, das Vereins- und Club-Leben, die Politik mit ihren nationalistischen Ritualen bis hin zu militanten Bewegungen bieten genau so die Möglichkeit, sich mit etwas Grösserem zu identifizieren und sich einen Lebenssinn zuzuschreiben. Gute Werke gibt es in dieser Welt auch ohne religiöse Motivation!

 

Es ist so: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität können ohne Religionszugehörigkeit, ohne den Glauben an einen Gott angestrebt werden. Doch wir Sufis wollen Gottes Nähe finden und lernen, Ihm zu dienen, um am ewigen Leben Teil zu haben. Identitätsbildung und gute Werke sind Teil dieses Dienstes – also ein Zwischenziel und nicht das eigentliche Endziel. Wir befassen uns mit Werten, die Kurzsichtige nicht interessieren. Was wir suchen, ist im Irdischen nicht attraktiv. Wir bilden unsere Identität in Verbindung zur anderen Welt, dem Jenseits, das nicht an Raum und Zeit gebunden ist. Solches kann von den Wissenschaften nicht erfasst werden, denn dies überschreitet die Grenzen des Begreifens.

 

Erlauben Sie mir, verehrte Anwesende, zu schliessen mit der dritten Strophe des berühmten und vertonten Gedichts „Der Mond ist aufgegangen“ von Mathias Claudius (1746-1815):

 

Seht ihr den Mond dort stehen? –
er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön!
Es sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsere Augen sie nicht sehn.

 

Herzlichen Dank für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.

 

 

 

Die Urheberrechte der mit freundlicher Genehmigung verwendeten Zitate aus dem Mesnevi sind bei der Übersetzergemeinschaft Bernhard Meyer, Kaveh und Jilla Dalir Azar.  Die Bücher, welche die Zitate enthalten, sind auf dem Markt erhältlich (Rumi „Das Matnavi“, Edition Shershir, Dr. Peter Finckh).

 

Die Übersetzungen des Korans stammen von Max Henning.