Was bedeuted das Herz im Islam? Vortrag bei den Rosenkreuzern in Caux
Peter Hüseyin Cunz, 6. September 2015
Du liebst Gott, und Gott ist so, dass kein Haar von dir bleibt, wenn Er kommt.
Bei Seinem Anblick verschwinden hundert wie du; ich glaube, mein Freund, du bist in die Verneinung deiner selbst verliebt.
Du bist ein Schatten und in die Sonne verliebt: Die Sonne kommt und sofort verschwindet der Schatten.
(Mesnevi 3:4621 ff)
Diese Verse vom grossen islamischen Heiligen Celaleddin Rumi beschreiben, was wir Menschen erleben, wenn wir konsequent dem Weltlichen entsagen wollen. Viele von uns sehen im Weltlichen nicht mehr das letztendliche Glück. Wir sind auf der Suche nach dem Hintergründigen. Rumi beschreibt dieses Suchen, diesen Drang als Geschenk Gottes:
Diese Suche in uns wird von Dir Gott erschaffen. Ohne dass wir suchten, hast Du uns diese Suche gegeben; Du hast uns Geschenke ohne Zahl und Ende gegeben.
(Mesnevi 1:1337 f)
Ein inneres Feuer hat sich irgendwann in unserem Leben entzündet, und dieses bleibt bestehen in Freud und Leid, es erlischt nicht mehr. Manche erleben das als zarte Flamme, die in Momenten der Ruhe spürbar wird, andere als loderndes Feuer, das sie ständig begleitet.
Der Islam und insbesondere dessen Mystiker, die Sufis, verstehen diese Sehnsucht als ein Signal des göttlichen Geistes (rahm), den Gott mit Seiner Schöpfung ins Zentrum des Menschen gepflanzt hat. Dort im esoterischen Herzen, dem letztendlichen Mittelpunkt des Menschen sitzt Gott auf Seinem Thron (‚arsch). Ein ausserkoranisches Gotteswort (hadith qutsi) lautet:
Weder Himmel noch Erde umfassen Mich, doch Mich umfasst das Herz Meines treuen Dieners.
Der Drang nach dem Jenseitigen entzündet sich in unserem Herzen, doch der Weg zum Herzen ist schwierig. Unser Schicksal in dieser Welt sowie die uns ständig begleitenden Gedanken und Emotionen verunmöglichen es, ohne übermenschlichen Verzicht direkt zu unserem esoterischen Herzen zu gelangen. Wer meditiert weiss, wie schwierig das ist, und wie viel Frust beim Üben hochkommt. Sicher, wir kennen Berichte von Heiligen und grossen Meistern, die „erfolgreich“ den Weg zum Herzen gegangen sind und die wir gerne als Vorbild sehen. Und so raffen wir uns auf, nehmen uns Zeit und geben Geld aus, um vielleicht einen Geschmack davon zu erhalten. Doch wir finden nicht, was unsere Vorbilder erreichten, denn wer von uns will und kann sich schon allzu sehr vom Weltlichen abwenden! Ja, und das ist durchaus gut so!
Wie würde wohl die Welt aussehen, wenn jede und jeder sich vom Weltlichen abwenden würde, um sich nur mit dem Hintergründigen zu befassen? Gott hat nicht jeden Menschen als Ausnahmeerscheinung erschaffen. Bewundernswerte Heilige und vorbildliche Meister gibt es nur sehr spärlich. Und doch verspricht Gott im heiligen Koran jedem Menschen Seine Nähe:
Wir erschufen doch den Menschen und wissen, was ihm sein Inneres zuflüstert. Und wir sind ihm näher als seine Halsschlagader. (50:16)
Gott erschuf den Menschen aus Lehm und Geist. Er lebt in einer zweigeteilten Schöpfung, bestehend einerseits aus der Welt der Erscheinungen (Diesseits) und andererseits der hintergründigen Welt (Jenseits, „die andere Welt“). Beide sind gleichfalls zu respektieren! Es ist diese Zweiteilung der Schöpfung, welche eine Dynamik offeriert, in welcher der Menschen näher zu sich selbst und damit zu Gott gelangen kann. Ausgedrückt in einfachen Worten: Mit Hilfe des Äusseren können wir zu unserem Inneren gelangen.
Der Mensch ist die eigentliche Verbindung der zwei Welten, und darum wurde Adam von Gott anlässlich Seines Schöpfungsaktes zum höchsten Wesen der Schöpfung erklärt. Der Weg der Sufi ist mit einem Fuss in dieser und mit dem anderen Fuss in der anderen Welt. Darum versucht er ständig, die Verbindung der zwei Welten zu sehen und zu realisieren. Doch letztendlich geht es dem Sufi nicht ums Erreichen seiner Mitte, die einen Zugang zur anderen Welt und damit zur Erleuchtung ermöglicht, es geht ihm nicht ums meditative Verharren im esoterischen Herzen. Das zum einzigen Ziel zu nehmen empfinden wir als egoistische Ambition. Uns geht es nur darum, Gott zu dienen, wie auch immer ein solches Dienen verwirklicht wird. Im Koran steht:
Und die Dschinn (Geistwesen) und die Menschen habe Ich nur dazu erschaffen, dass sie Mir dienen. (51:56)
In Gottes Dienst sein heisst, in der Interaktion mit den Mitmenschen und der Umwelt Gutes zu erzeugen. In Gottes Dienst sein heisst, uns der alles überdachenden Qualität Gottes, der Barmherzigkeit (rahman) gewahr zu sein und diese im Rahmen unseres Vermögens weiterzugeben. In Gottes Dienst sein heisst, unser Handeln von unserer Vernunft leiten zu lassen und der Gesellschaft mehr zu geben als von ihr zu nehmen. In zahllosen Aussprüchen des Propheten Muhammad (hadith) wird dazu aufgerufen, einen guten Charakter zu pflegen und für andere nützlich zu sein, so zum Beispiel in den folgenden Versen:
Derjenige, den Gott am liebsten hat, ist der, der für Seine Geschöpfe am nützlichsten ist. (überliefert nach Albânî, Hadith-Nr. 172, Übersetzung M. Khorchide)
oder
Derjenige, den Gott am liebsten hat, ist der mit dem besseren Charakter.
(überliefert nach Albânî, Hadith-Nr. 179, Übersetzung M. Khorchide)
Fragen wir uns doch: Was bedeutet konkret „für Seine Geschöpfe nützlich sein“, oder „einen guten Charakter haben“? Die Antwort liegt in hunderten von kleinen Details des Alltags während unserer Interaktion mit anderen Menschen: in der Familie, in der Berufsausübung, beim Einkauf, auf dem Weg im öffentlichen Verkehr, und so fort.
Damit das „nützlich und gut Sein“ durch Mitgefühl und mittels der Vernunft nicht durch persönliche Dränge und Ambitionen gestört wird, arbeiten die Sufis an der Reinigung ihrer Seele (nafs). Wir verstehen die Seele als Bereich zwischen dem unsterblichen esoterischen Herzen (qalb), wo Gott uns nahe ist, und unserem Wirken nach aussen. Unsere Seele mit ihren Schatten und Verfärbungen beeinflusst massgeblich unsere Handlungen. Darum besteht die Hauptarbeit auf einem spirituellen Weg darin, die Seele zu reinigen. Rumi sagt:
Dann mache es dir zur Gewohnheit – auch wenn du einen dunklen Körper wie Eisen hast – zu polieren, zu polieren, zu polieren;
Damit dein Herz ein Spiegel voller Bilder wird und dir aus jeder Richtung reizende weisse Schönheit zeigt.
Auch wenn das Eisen dunkel war und kein Licht besass, hat es durch Polieren doch die Dunkelheit verloren.
Das Eisen hat das Polieren ertragen, und seine Oberfläche wurde davon schön, und man kann Bilder darauf sehen.
Weil der Körper grob und dunkel ist, poliere ihn – denn er ist für das Poliermittel empfänglich;
Damit die Formen des Unsichtbaren in ihm erscheinen und der Widerschein von Hûrî und Engel auf ihn treffen.
Gott hat dir Poliermittel gegeben, die Vernunft, um die Oberfläche des Herzens glänzend machen zu können. …..
(Mesnevi 4: 2469 ff)
Unsere Seele wirkt wie ein Schleier vor dem esoterischen Herzen oder, in den zitierten Worten Rumis, als Schmutz auf dem Spiegel. Wenn die Schleier beseitigt sind, wird das Herz sichtbar. Wenn die Seele gereinigt wird, wirkt sie wie ein Spiegel, in welchem sich das göttliche Licht widerspiegelt. Wenn unsere Seele beginnt, zum Spiegel zu werden, erkennen wir, dass unsere Gefühle, Gedanken und Taten nichts anderes als die Widerspiegelung dieses Lichtes sind. Je nach Beschaffenheit des Spiegels werden diese schön oder verzerrt oder hässlich sein. Darum sind wir aufgefordert, „unaufhörlich den Spiegel zu putzen“ oder – in anderen Bildern – die Schleier vor unserem inneren Herzen zu beseitigen.
Im zitierten Gedicht erkennen wir nochmals, warum der Mensch das höchste Wesen in Gottes Schöpfung ist. Er ist mit der Fähigkeit des Reflektierens, dem Intellekt ausgestattet, der die Vernunft ermöglicht. Dank der Vernunft kann der Mensch gesellschaftsfähig und „gut“ sein, und die Vernunft ist das Poliermittel, um den inneren Spiegel zu reinigen.
Bevor ich weiterfahre, erinnere ich nochmals an den Prozess, den ich bisher zu veranschaulichen versuchte:
– Wir versuchen, Gott zu dienen.
– Dazu verwenden wir die Vernunft,
– und in diesem Bemühen wird unsere Seele poliert.
– Eine gereinigte Seele eröffnet uns den Zugang zu unserem esoterischen Herzen.
Und wie gestaltet sich das, wenn unser esoterisches Herz spürbar wird? Dann ist das sicher nicht mit einem erhebenden Gefühl der Besonderheit verbunden. Ja, wir sehen einen Zipfel von Gottes Gewand, doch dadurch ist unser Getrennt-sein von Ihm erst recht wahrnehmbar. Das Resultat ist eher Schmerz und nicht Wohlgefühl. Das berühmte Lehrwerk Rumis, das Masnawi (türkisch Mesnevi), bestehend aus etwa 26’000 Versen, von dem ich schon zitiert habe, beginnt mit diesem Schmerz aus Sehnsucht nach dem Ursprung. Es erzählt von der Bambusflöte (ney), die sich auf ihren Ursprung besinnt, als sie noch eine Bambuspflanze im Bachbett war. Wenn der Flötenspieler (Gott) seine Lippen an das Rohr (Mensch) setzt und seinen Atem ins Rohr bläst, dann ertönen diese sehnsüchtigen Klänge.
Hör auf die Flöte – wie sie erzählt, wie sie klagt über Trennung und spricht:
„Seit man mich vom Röhricht schnitt, weinen Mann und Frau bei meiner Klage.
Ich suche ein Herz von Einsamkeit gequält: Dem will ich vom Schmerz der Sehnsucht erzählen.
Wer weit entfernt von seinem Ursprung ist, der sehnt sich zurück nach der Zeit der Einheit.“
(Mesnevi 1:1-3)
Die Mystik beginnt mit einem tiefen Schmerz – einem Gefühl der Trennung von dem, wonach wir alle tief in uns streben. Und so wünscht sich der Mystiker die Begegnung mit einem ebenfalls von Einsamkeit gequälten Herzen, dem er von seinem Schmerz der Sehnsucht erzählen kann. Rumi fand dieses Herz mit der Begegnung des Wanderderwisches Schams von Täbris. Miteinander zogen sie sich zurück, nährten sich gegenseitig mit ihren spirituellen Erfahrungen und halfen einander, die Tore zur anderen Welt zu öffnen. Als Schams von Rumis Schülern bedroht wurde, verliess er den Ort und liess Rumi auf sich selbst gestellt zurück. Und nun, in seinem Schmerz der Trennung von seinem Freund, öffneten sich die Tore zur anderen Welt und inspirierten Rumi zu seinen berühmten Gedichten des Divan, die in über 36’000 Versen das Göttliche und die Schau zum Jenseits besingen. Rumi wurde so zu einem der grössten Dichter und Mystiker aller Zeiten.
Die gegenseitige Liebe zwischen zwei Menschen oder innerhalb einer Gemeinschaft ist wesentlich auf dem Weg zum Herzen. In dieser interaktiven Liebe werden noch vorhandene Schleier beseitigt. Rumi sagt immer wieder, dass wir auf unserem Weg Gefährten benötigen, um von uns selbst gänzlich loslassen zu können. Ritualisierte Exerzitien wie das Ritualgebet, das gemeinsame Gottesgedenken (dhikr) und auch das gemeinsame Studium unterstützen uns im Loslassen. Loslassen bedeutet, seine Selbstkontrolle fallen zu lassen. Alleine können wir das nicht erreichen, denn, um alleine etwas zu verwirklichen, benötigen wir unser „Ich“ mit dessen Selbstwahrnehmung, das unsere Persönlichkeit formt. Dieses Ich wird sicher nicht Selbstmord begehen. Somit kann es nicht als Instrument dienen, um das Nichtsein zu erlangen. Rumi sagt:
Es gibt für niemanden, der noch nicht entworden ist, Zutritt in den Audienzsaal Seiner Majestät.
Was ist das Mittel, um zum Himmel aufzusteigen? Nichtsein!
Nichtsein ist der Glaube und die Religion der Liebenden.
(Mesnevi 6:232-233)
Ohne die Hilfe eines schützenden Rahmens wagt sich kein normaler Mensch ans Entwerden von sich selbst. Darum ist die religiöse Gemeinschaft so wichtig. Wenn wir alleine sind, steht immer unser ambitiöses Ich im Weg. Schon jedes Bild, das wir von unserem erhofften zukünftigen spirituellen Fortschritt mit uns tragen, ist ein Hindernis. Es ist in der Hoffnungslosigkeit einer hoffnungslosen Verliebtheit, im letztendlichen Aufgeben aller Ambitionen, dass unser Herz sichtbar wird und Gott Seine Nähe in unserem Inneren zeigt. Diese Art der Hoffnungslosigkeit entsteht viel mehr durch zerstörte Pläne, Enttäuschungen und Schicksalsschläge, als durch eine geplante Meditation oder Retraite.
Für die einen mag es erschreckend sein, für andere tröstend: Gott liebt uns nicht, weil wir viel meditierten, weil wir auf viel Erfahrung zurückblicken oder weil wir etwas zu wissen glauben. Viel mehr liebt Er uns in unserem Ringen, in unserem Kampf mit uns selbst. Darum, wer am Polieren seines „dunklen Körpers wie Eisen“ ist und sein Herz noch nicht so recht spürt, soll nicht aufgeben. Rumi sagt:
Wenn du kein Mann des Herzens bist, sei wachsam; suche nach dem Herzen und kämpfe. (Mesnevi 3:1224)
Ein aktives Leben mit seinen Herausforderungen und Schwierigkeiten gehört ebenso zum spirituellen Weg wie Zeiten des Gebetes, der Meditation und des Rückzuges. Gerade in der heutigen Zeit, wo jeder Mensch frei wählen kann, welchen spirituellen Weg er gehen will, ist eine unerlässliche Voraussetzung, dass jeder spirituelle Weg sich an der Ethik und dem gesellschaftlichen Nutzen misst. Darum sei nochmals deutlich daran erinnert, dass sich Gott nicht nur in unserem Herzen verwirklicht, sondern gleichfalls als transzendente Kraft in unserem äusseren Leben.
Ein Vers im Koran, auf den sich die Sufis gerne beziehen, lautet:
Wohin ihr euch auch wendet, dort ist Gottes Angesicht“ (2:115).
Um diese Phänomene der Transzendenz zu verstehen, können wir den Beginn eines berühmten Gedichtes von Christian Morgenstern als Bild verwenden:
Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum,
hindurch zu schaun.
Hinter allen Erscheinungen schimmert das Hintergründige durch. Sowohl das Gute als auch das Böse , sowohl die Engel als auch die Teufel beherrschen das Jenseits und wirken ins Diesseits hinein. Der richtige Umgang im Äussern, der äussere Dienst an Gott, ist ebenso Teil des spirituellen Weges, wie das Pflegen der individuellen Innenwelt. Um es nochmals zu sagen: Der Weg des Menschen ist nicht von dieser Welt in die andere, nicht in Richtung Ekstase und Erleuchtung; der Weg des Menschen ist mit einem Fuss in dieser und dem anderen Fuss in der anderen Welt. Der Mensch ist die Schnittstelle, das Bindeglied zwischen den zwei Welten, und ihm wurde die Kapazität geschenkt, dies nicht nur zu erdulden, sondern auch ein weites Stück mit Hilfe seines Ichs zu ertragen.
Die Gemeinschaft unter Gleichgesinnten in einem religiösen Rahmen, zu der alle Propheten und Religionsgründer aufgerufen hatten, soll dem Suchenden auf seinem Weg Stütze und Schutz sein. Auch Rumi, der tausende von mystischen Versen gedichtet hat, die den Zustand eines offenen Herzens beschreiben, erinnert immer wieder daran, dass das Öffnen des Herzens nicht ohne einen schützenden und wegweisenden Rahmen möglich ist. Deutliche Worte verwendet er in einem berühmten Vierzeiler:
Solange ich lebe, bin ich ein Diener des Korans.
Ich bin Staub auf dem Weg Mohammeds, des Auserwählten.
Wenn jemand aus meinen Worten etwas anderes verstehen will,
Dann habe ich mit ihm gebrochen und bin über diese Worte empört.
(Ruba’iyat Nr. 1173, Edition Shershir, www.shershir.ch)
Wie oft wird doch gemeint, dass ein inneres Wohlgefühl, eine sich positiv anfühlende Stimmigkeit der Indikator eines aufgeweckten Herzens sei! Wie oft habe ich gehört: „Ich brauche keine religiöse Mitgliedschaft, ich folge meinem Herzen!“ Auch dies spricht Rumi mit deutlichen Worten an:
Verächtlich hast du Hilfe abgelehnt und gesagt: „Ich besitze ein Herz; ich brauche niemand anderen, ich bin mit Gott vereint.“
Das ist, als ob das Wasser die Erde verächtlich ablehnen und sagen würde: „Ich bin das Wasser, warum sollte ich Hilfe suchen?“
Du hast dir dieses verunreinigte Herz als Herz vorgestellt und folglich hast du dein Herz von den Herzbesitzern abgewendet.
Glaubst du wirklich, dass das Herz, das in Milch und Honig verliebt ist, jenes reine Herz ist?
(Masnavi 3:2260-2264)
Unser esoterisches Herz ist eingeschlossen in unserer Seele. Soll das Herz sichtbar werden, muss sich die Seele transformieren und durchlässig werden. Doch sie will das nicht. Mit ihrem Ich-Gefühl will sie etwas Besonders und Eigenständiges sein und ewig leben. Unsere Seele stellt sich ins Zentrum des Geschehens, wo immer es geht. Sie will gesehen, anerkannt und geliebt werden. Sie kann es nicht ertragen, durchlässig zu werden und damit den eigenen Charakter zu verlieren.
Ein Sufi übt sich darin, nicht jemand sein zu wollen, und dies ist der Seele völlig zuwider. Die Reaktionen lassen beim Üben auch nicht auf sich warten: mindestens subtil melden sich die Widerstände sofort. Der Sufi-Weg ist kein Weg des Wohlbefindens. Es ist ein ständiges aufwändiges Schleifen an sich selbst.
Verehrte Damen und Herren, wo immer wir stehen mit unserer Suche, unseren Hoffnungen und Wünschen, unseren Ambitionen und Rückschlägen: vergessen wir nie, dass Gott uns ständig nahe ist, und dass Gott in jeder Lebenssituation erkannt werden kann. Dies verlangt aber von uns, dass wir uns nicht selbst im Wege stehen. Nostalgie und das Hadern mit der Vergangenheit sind hinderlich. Gleichfalls sind Ambitionen hinderlich – auch subtile. Sicher wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn auf ein Geschenk kein Dank zurückfliesst. Normalerweise kränkt uns das. Doch das ist ein Zeichen subtiler Ambitionen. Wir müssen lernen, Geschenke ohne Erwartung auf eine Anerkennung zu geben.
Unser Intellekt ist nützlich und erhebt uns auf die Stufe des Mensch-seins. Er unterstützt die Vernunft, welche, wie wir gehört haben, auf einem spirituellen Weg wichtig ist. Der Intellekt hat die Fähigkeit, uns vorauszufliegen in eine imaginierte Richtung. Er schafft Bilder über das zu Erreichende und offeriert uns dadurch eine Orientierung. Aber der Intellekt kann auch schnell mal zum Hindernis werden. Bücherwissen ist gut zur Beruhigung eines eifrigen Intellektes, aber hüten wir uns vor zu viel Einbildung! Rumi sagt:
Den ganzen Tag bleibt der Seele vor lauter Fantasien, Gedanken an Verlust und Gewinn und Angst vor Niedergang keine Freude, keine Gnade und Ehre und kein Weg zum Himmel.
Wer schläft, hofft auf leere Einbildungen und unterhält sich mit ihnen.
(Mesnevi 1:411-412)
Der spirituelle Weg beginnt mit einem ersten Schritt. Sich dabei bereits den zweiten, den dritten oder gar den letzten Schritt vorzustellen, ist eines der grössten Hindernisse, denn nach dem ersten Schritt sind wir andere Menschen mit klareren Augen. Die uns begleiteten Vorstellungen sind nicht mehr gültig. Der zweite Schritt wird zu einem erneuten ersten Schritt! Auf jeder spirituellen Stufe ist der spirituelle Weg ein neuer erster Schritt. Dies ist die innere Bedeutung von La ilaha il-Allah, dem Beginn des islamischen Glaubensbekenntnisses: Tue zur Seite alles, was nicht Gott ist, und dann bleibt nur noch Gott übrig.
Lassen Sie mich beenden mit der nochmaligen Erinnerung daran, dass ein Sufi sich darin übt, nicht jemand sein zu wollen, und schon gar nicht, jemand besonderes sein zu wollen. Die Bitte des Sufi ist sehr schön im berühmten Gebet des Schweizer Heiligen Bruder Klaus von Flüe (1417-1487) ausgedrückt; es hätte von einem Sufi-Heiligen sein können:
Mein Herr und mein Gott, nimm alles mir,
was mich hindert zu Dir;
Mein Herr und mein Gott, gib alles mir,
was mich fördert zu Dir;
Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen Dir.
Amen
Koranstellen in Anlehnung oder gemäss Übersetzung von Max Henning.
Zitate von Rumi mit freundlicher Genehmigung der Übersetzergemeinschaft Bernhard Meyer, Kaveh und Jilla Dalir Azar, aus Rumi, Das Matnavi, Edition Shershir.