Die Geschichte der Mevlevi

(Mit Hilfe unserer Partner in Deutschland)

 

Mevlana Celaleddin Rumi, der die verschiedenen Stufen der Erkenntnis und der Liebe während der Zeitabschnitte, die mit der Bezeichnung „vor Shams“ und „nach Shams“ bekannt geworden sind, überschritten hatte, hinterließ ein großartiges Erbe aus Prosa und Lyrik, das die mystischen Geheimnisse ekstatischer Momente der göttlichen Verzückung enthüllt, allem voran sein Meisterwerk, das Mathnawi (auch Mesnevi), einem viel bestaunten Handbuch für das menschliche Dasein. Unabhängig von seinem Werk führte er – was vielleicht noch wichtiger ist – ein vom Islam bestimmtes Leben, verdeutlicht durch seinen eigenen Leitspruch „ein Diener des Qur’an und Staub auf dem Weg des Propheten“, zu sein, ein Paradigma, das von allen Muslimen nachgeahmt werden sollte.

Waren nun all diese Lehren, die einmal eilig, ein andermal ausführlich vermittelt und durch kluge Gleichnisse für jeden Zuhörerleicht verständlich gemacht wurden, dazu bestimmt, ihre Mission zu erfüllen, als Rumi seinen letzten Atemzug tat? Oder sollte dieser Gemütszustand, eingebettet in Liebe und Duldsamkeit, dazu bestimmt sein, schon nach wenigen Generationen in Vergessenheit zu geraten? Tatsächlich wies Rumi noch zu Lebzeiten mit dem folgenden Ausspruch auf diese Umstände hin: „Das Mathnawi wird nach unserer Zeit als Führer wirken und den Unschlüssigen den rechten Pfad weisen“. Rumi hinterließ ein gewaltiges Erbe, das keineswegs in Vergessenheit geriet, sondern im Gegenteil an Bedeutung zunahm und das darüber hinaus als einzigartige Auslegung des Qu’ans anerkannt wurde.

DIE ANFÄNGE DES MEVLEVI-SUFISMUS

Im Bestreben, die Philosophie des „menschlichen, d.h. menschenwürdigen Lebens“ im Sinne von Rumi durch Bewahren und Fortführen auch zukünftigen Generationen dienstbar zu machen, wurden die Mevlevi-Lehren von Rumis Sohn Sultan Walad, von Çelebi Husamaddin (auch Tschelebi), der die Verse des Mesnevi aufzeichnete, sowie weiteren Schülern des Pfades, institutionalisiert. So konnte sich dieser Sufipfad in unverwechselbarer Art und Weise etablieren.

Obwohl damals viele Anhänger große Hoffnungen darauf gesetzt hatten, dass Sultan Walad die Leitung nach Rumis Tod übernehmen würde, sah dieser selbst sich dazu außerstande und reichte die Verantwortung an Çelebi Husamaddin weiter. Damit stellte er auch seine Fähigkeit zur Selbstüberwindung unter Beweis, um aus jenem inneren Kampf, auf den sein Vater so großen, brennenden Wert gelegt hatte, siegreich hervorzugehen.

Während seiner elfjährigen Amtszeit als Scheich ließ Husamaddin die bis heute erhaltene Grüne Kuppel bauen, unter der sich die Grabstätte Rumis befindet. Er scharte Freunde und Schüler zu Koranrezitationen und Lesungen aus dem Mesnevi um sich, bei denen ihre begierigen Herzen überreiche Nahrung fanden. Diese Zusammenkünfte, die der reinen Gotteserkenntnis verpflichtet waren, entwickelten sich zu einem zentralen Bestandteil des Mevlevi-Sufismus.

Nach dem Tod Husamaddins im Jahr 1284 trat Sultan Walad, damals 58 Jahre alt, an seine Stelle. Damit begann eine 28-jährige Blütezeit, die zu einem raschen Anwachsen der Anhängerzahl des Pfades führte. Nun wurden die Beziehungen zum Hof der Seldschuken gestärkt und – als bedeutendste Entwicklung – der Sema (Wirbeltanz, wörtl. ‚Hören‘), die Musik und das Mesnevihanlik (Wiedergabe des Mesnevi) in Einklang mit den Prinzipien des Mevlevi-Pfades gebracht und in diesen integriert. Adab (Verhaltensregeln) und Erkan (wesentliche Prinzipien und Ordensregeln) des Mevlevi-Sufismus, die in den folgenden Jahren auf dieser Grundlage aufgebaut wurden, sind mit minimalen Abänderungen bis zum heutigen Tag erhalten geblieben.

Doch unter Sultan Walad erhielt der Mevlevi-Pfad nicht nur seine grundlegende Struktur mit allgemein gültigen Regeln, er breitete sich auch weiter in Anatolien aus, beginnend mit den bedeutendsten Städten, wie Kirşehir, Amasya und Ercincan, wohin jeweils ein vom Scheich offiziell ernannter Vertreter entsandt wurde. Diese wurden jeweils überaus herzlich empfangen, und damit war der Weg zu den Herzen der Menschen frei. Die Weisheit Rumis, der Sema und die Sufimusik konnten in den Zawiyas – so hießen die neu errichteten Mevlevi-Zentren – ihren Siegeszug antreten.

Als Sultan Walad 1312 zu Gott heimkehrte, war der Mevlevi-Pfad in seinen Grundzügen fest etabliert. Die ewige Schönheit des Islams schickte sich an, auf eine zuvor unbekannte Art und Weise Massen hoffnungsvoller Menschen in ihren Bann zu ziehen. Schon lange bevor Ulu Arif Çelebi (gest.1320) die Nachfolge seines Vaters Sutan Walad antrat, hatte er große Anstrengungen unternommen, sich zu vervollkommnen. So war er beispielsweise durch Anatolien und Persien gereist, um die Verbreitung von Rumis Lehre voranzutreiben. Die Mevlevi-Zawiyas, die in Karaman, Beyşehir, Aksaray, Adşehir, Afyon, Amasya, Niğde, Sivas, Tokat, Birgi, Denizli, Alanya, Bayburt, Erzurum und schließlich auch in Täbriz gegründet wurden, waren Früchte dieser erfolgreichen Reisen.

Infolge der nun in Anatolien aufflammenden politischen Unruhen gelang es Schamsaddin Abid (gest. 1338) und Husamaddin Wadschid (gest. 1342) trotz ihres brennenden Wunsches, die Lehre in Übereinstimmung mit dem traditionellen Erbe weiter zu verbreiten, in der Nachfolge ihres Bruders Ulu Arif Çelebi gerade noch, diesen Weg der Liebe am Leben zu erhalten und vor dem Untergang zu bewahren. Ihre Nachfolger, Amir Adil Çelebi (gest. 1368), Amir Alim ÇelebiII. (gest. 1395) und Arif Çelebi (gest. 1421), sahen sich ähnlichen politischen Wirren ausgesetzt und scheiterten in ihren Bemühungen, den Wirkungskreis des Pfades weiter auszudehnen.

 

DIE UMSTRUKTURIERUNG DES MEVLEVI-PFADES

Als Pir Adil Çelebi der Sohn des Amir Alim, im Jahr 1421 Scheich der Mevleviyya wurde, waren andere institutionalisierte Sufipfade, vor allem die Bektashiyye, Helvetiyye und Qadiriyye, bereits weit verbreitet. Um sich mit den Prinzipien des Mevlevi-Pfades von den anderen abzuheben, beschloss Pir Adil Çelebi daher eine Umstrukturierung des Pfades, wobei man jedoch den ursprünglichen Stil des Sema  (des Wirbeltanzes), der praktisch seit der Zeit Sultan Walads fast unangetastet geblieben war, beibehielt.

Die Zeit nach seinem Tod (1460 bis 1509) war prägend für seinen Sohn Camaluddin Çelebi. Dieses halbe Jahrhundert stellte nicht nur die Bedeutsamkeit des Mevlevi-Pfades unter Beweis, es war auch richtungweisend für die Geschichte von Konya und Anatolien. Konya wurde während dieser Zeit dem Herrschaftsgebiet der Osmanen einverleibt (1467). Gleichzeitig öffneten die beachtlichen Anstrengungen eines Nachfahren Rumis mütterlicherseits, Divana Mehmed Çelebi , und seines Schülers Şahidi Dede (gest. 1550) im Gebiet der Ägäis die Tore von Denizli, Küthaya, Bursa, Muğla, Isparta, Budur, Aydin, Izmir und – zu guter Letzt – Istanbul für die Lehren der Mevlevi. Überall dort wurden neue Mevlevi-Zentren gegründet. Wieder genoss man das Privileg, dass der Sultan der Osmanen Yildirim Bayazid, der durch die Mutter Davlat Hatun ebenfalls ein Nachkomme Rumis war, keine Mühe scheute, dem Mevlevi-Pfad seine Unterstützung zu gewährleisten, indem er sich persönlich seiner Verbreitung in Anatolien widmete. Allein die Tatsache, dass Mehmed, der Sohn von Yildirim Bayazid, anstelle des üblichen Titels „Sultan“ den Titel „Çelebi “ annahm, der ausschließlich den Nachkommen Rumis vorbehalten war, zeigt deutlich seine tiefe Liebe und seinen Respekt für den Mevlevi-Pfad.

Als das Osmanische Reich im 16. Jahrhundert auf seinem Zenit stand, wurde der Pfad von den Sultanen Selim I. (Regierungszeit: 1512 – 1520), Süleyman den Prächtigen (Reg.: 1520 – 1566) und Selim II. (Reg.: 1566 – 1574) großzügig finanziell und politisch gefördert. Husrav Çelebi (gest. 1561) und Faruk Çelebi (gest. 1591), die aufeinander folgenden Scheichs des Pfades, nutzten diese Unterstützung zur Verbreitung und Stärkung des Mevlevi-Pfades.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts sehen wir mit Sultan Ahmad (Reg.: 1603 – 1617) einen Anhänger des Mevlevi-Pfades an der Spitze des Reiches. Wie nicht anders zu erwarten, unterstützte er den damaligen Mevlevi-Scheich Bostan Çelebi I. in geradezu überwältigender Weise. Da dieser sich durch das Wohlwollen des Sultans und vieler weiterer Staatsmänner bestätigt sah, trieb er die Entwicklung des Pfades während der 39 Jahre seiner Amtszeit weiter voran. Das gelang ihm so gut, dass bei seinem Ableben der Mevlevi-Pfad auf dem Balkan, in Ägypten und in Syrien fest etabliert war.

Bostans Nachfolger Abu Bakir Çelebi war jedoch nicht so sehr vom Glück gesegnet. Er durchlebte während der Regierungszeit von Sultan Murad IV. (Regierungszeit 1623 – 1640) schreckliche Zeiten, da sich dieser hartnäckig nicht nur gegen die Mevlevi, sondern ganz allgemein gegen alle Sufibewegungen stellte. Und doch sollte es anders kommen:

Sultan Murad trug sich mit der Absicht, auf seinem Weg nach Bagdad das Mevlevi-Zentrum von Konya zu zerstören. Doch dann hatte er dort eine mystische Erfahrung, die ihn vor der Verwirklichung seines Planes zurückschrecken ließ. Stattdessen genehmigte er den Fortbestand der Bewegung und überschüttete Abu Bakir Çelebi mit Geschenken, womit er das Zentrum langfristig finanziell absicherte.

Nach Abu Bakir Çelebi übernahm Arif Çelebi (gest. 1642) die Leitung, gefolgt von Hussein Çelebi , der weitere 24 Jahre im Amt des Scheichs der Mevlevi diente. Etwa ab den Regierungszeiten von Sultan Ibrahim (Reg.: 1640 – 1648) und Mehmet IV. (Regierungszeit 1648 – 1687) und vielleicht parallel mit dem allgemeinen Verfall des Reiches scheute der Mevlevi-Sufismus davor zurück, neue, innovative Schritte zu unternehmen. Zeitweilig wurde er sogar verfolgt, da man ihm, besonders unter Scheich Hussein Çelebi (gest. 1666) und später unter Scheich Abdulhalim Çelebi (gest. 1679) politische Ambitionen vorwarf.

Nachdem Abdulhalim Çelebi 1679 in die Ewigkeit eingegangen war, folgte ihm sein Sohn Kara Bostan Çelebi , der sich bemühte, dieser unglücklichen Entwicklung Herr zu werden. Kara Bostam Çelebi unternahm gleich zu Beginn kolossale Anstrengungen in der Hoffnung, den Mevlevi-Pfad aufzuwerten, und tatsächlich gelang es ihm auch, den Pfad auf den Stand seiner ruhmreichen Tage zurückzuführen. Die Mevlevi begannen nun, sich wieder öffentlich zu versammeln, nicht nur in Konya, sondern auch in den anderen Mevlevi-Zentren, die es damals schon in großer Zahl in allen Ecken des Osmanischen Reiches gab.

 

JÜNGERE VERGANGENHEIT

Während des 1.Weltkriegs war der damals sehr bekannte Dichter Izbudak, mit bürgerlichem Namen Walad Çelebi, der erste Scheich der Mevlevi-Tarikat. Allerdings wurde er noch während des Krieges von seinem Posten enthoben und durch seinen Vorgänger im Amt, den früheren Scheich Abdulhalim Çelebi, ersetzt, der nun gleichzeitig auch Mitglied des Parlaments war, wo er im Otoman Machis-i Mabusan (gesetzgebende Generalversammlung) die Stadt Konya repräsentierte.

Abdulhalim Çelebi blieb ein Jahr als Scheich im Amt, wurde aber dann von Amil Çelebi abgelöst. Doch Amil, selbst bereits im fortgeschrittenen Alter, hatte unter schweren gesundheitlichen Problemen zu leiden. Er starb nicht einmal ein Jahr später, sodass Abdulhalim Çelebi zum dritten und letzten Mal mit dem Amt des Scheichs betraut wurde. Abduhalims dritte Amtsperiode währte von 1920 – 1925, wobei er im türkischen Parlament zunächst die Stadt Konya vertrat und anschließend zum zweiten Präsidenten der Generalversammlung nach Mustafa Atatürk gewählt wurde.

Im Sommer 1925 wurden per Parlamentsbeschluss alle Sufi-Tekkes geschlossen. Abdulhalim Çelebi segnete am 12. Oktober 1925 das Zeitliche¹, zwei Monate nach diesem für alle Sufis unglücklichen Parlamentsbeschluss. Nach dem Dahinscheiden von Abdulhalim Çelebi übernahm Walad Dschelbi zum zweiten Mal für kurze Zeit die Leitung. Ihm folgte auch nur kurz Amil Çelebi.

Inmitten der Wirrnisse dieser Zeit war es in der Türkei nicht mehr möglich, die Leitung einer Tariqa aufrecht zu erhalten, deren Häuser geschlossen bleiben mussten. So ging die Familie Çelebi mit vielen treuen Anhängern des Mevlevi-Pfades nach Aleppo in Syrien, das damals unter französischem Protektorat stand. Etliche andere Derwische zogen zusammen mit ihren Familien auf den Balkan. Noch vor dem Tod von Abdulhalim Çelebi hatte Atatürk dessen Sohn Mehmet Bakir Çelebi zum Scheich der Mevlevihane von Aleppo ernannt. Ab 1925 war somit Aleppo das Hauptzentrum der Mevlevi. Mehmet Bakir Çelebi übernahm von dort aus die Leitung der Tariqa. Er zog sich aber durch seine wiederholt und lautstark geäußerten Bemühungen, die Stadt Hatay für die Türkei zurück zu gewinnen, den Unwillen der französischen Behörden in Syrien zu. Eines Tages wurde er sowohl von den Franzosen als auch von den Syrern der Spionage bezichtigt, und nach einem Familienbesuch in Istanbul verweigerte man ihm endgültig die Wiedereinreise.Bis zu seinem Tod wurde er in Aleppo von seinem Bruder Sems-ül Vahid Çelebî vertreten. 1943 starb er in Istanbul. Die syrische Regierung erließ kurz darauf neue Beschlüsse gegen die Derwischklöster. Stellen verstorbener Scheichs durften nicht mehr neu besetzt werden. Nach und nach mussten daher die Dergahs geschlossen werden und die Vermögen und Güter einem dafür extra bestimmten Amt für „Soziale Stiftungen“ übergeben werden, was einer Enteignung gleichkam.

Somit gab es ab 1944 auch in Aleppo keine Dergah mehr und ab diesem Zeitpunkt war auch dort keine traditionelle Ausbildung und keine ordentliche Organisation mehr möglich.²

 

¹Anmerkung: Abdulahalim Çelebis Dahinscheiden ging auf sehr tragische Weise vor sich. Er stürzte unter rätselhaften und bis heute ungeklärten Umständen vom Balkon eines Istanbuler Hotels, in dem er logierte. Es kann sich um einen Unfall, aber auch um einen Mord gehandelt haben. Dass es sich dabei um einen Suizid gehandelt hat, ist jedenfalls eine sehr üble Nachrede, die 2008 von einem deutschen Herausgeber veröffentlicht wurde (Yan d´Albert/.Dornbrach S.26-32, Sufi-Weg des Herzens und der Heilung). Eine üble Nachrede widerspricht aber jedem Adab eines Derwisch und wird auch nicht deshalb wahrer, wenn sie ständig wiederholt wird. Genauso wenig stimmt es, dass er Alevit gewesen ist, wie dort neben etlichen anderen Märchen erzählt wird.

² Gölpinarli, Mevlânâ’dan sonra Mevlevilik, S. 181

 

AUSBLICK AUF DIE GEGENWART

Celaleddin Bakir Çelebi, der Sohn des Mehmed Bakir Çelebi, wurde im Dezember 1926 in Aleppo geboren. Er war erst 18 Jahre jung, als er 1943, in einer sehr schweren Zeit, das Amt seines Vaters erben sollte. Er absolvierte seine Cille in der damals noch existierenden Dergah von Aleppo. Seinen schulische und sonstige geistige Ausbildung erhielt er in Aleppo, Istanbul und Beirut. Nach seiner Eheschließung mit Frau Guzide Uraz wohnte er weiterhin in Aleppo. Hier gebar ihm seine Frau die Tochter Esin und seinen Sohn und späteren Nachfolger im Amt, den heutigen Maqam-Çelebi Efendi – Faruk Hemdem Çelebi. Später sollten noch drei Töchter folgen. Im Jahre 1958 kehrte er mit seiner Familie in seine türkische Heimat zurück und ließ sich in Istanbul nieder.

Erstmals 1952 erlaubte die türkische Regierung wieder anlässlich des Todestages von Hz. Mevlana Rumi, ein Sema-Ritual zu veranstalten. Es muss ein unglaublich ergreifendes Erlebnis gewesen sein, als die alten getreuen Dedes von überall her zusammenkamen – ja sogar aus dem Balkan und aus Syrien waren sie angereist- um in Konya ihr Ritual, ihr so genanntes „Mukabele“, wieder gemeinsam abzuhalten. Der Erfolg innerhalb der Bevölkerung war so einschlagend, dass man sich entschloss, jedes Jahr ein Festival anlässlich des Todestages von Hz. Mevlana zu veranstalten. Alljährlich kommen seither Besucher aus aller Welt in den Tagen um den 17. Dezember in Konya zusammen, um gemeinsam mit den Derwischen das Fest „Sheb-i- Arus“ (Nacht der Vereinigung) zu feiern. Zuerst fanden die Veranstaltungen in einer Sporthalle statt, später wurde dafür eigens eine Halle errichtet.

Ab den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts kamen viele Europäern und Amerikaner nach Konya, weil sie sich sehr für die Mevlevi- Tradition und den Derwischtanz interessierten. Das damalige Oberhaupt Dr. Celaleddin Çelebi erlaubte auch Europäern, welche keine Muslime waren, das Sema zu lehren. Rusuhî Baykara Efendi aus Istanbul (gest. 1989), Sohn des letzten Scheichs der Yenikapi Mevlevihane in Istanbul, erklärte sich schon in den 60er Jahren damit einverstanden diese Aufgabe zu übernehmen. (Die bekannte Tanzlehrerin Frau Dr. Gabriele Wosien aus München war eine seiner ersten Schülerinnen.)

In den 70er Jahren übernahm dann auch Süleyman Hayati Dede (gest.1985), der legendäre Scheich von Konya, diese Aufgabe. Hauptsächlich auf Grund seines segensreichen Wirkens gibt es heute im Westen so viele Organisationen und Gruppen (siehe hierzu auch den Artikel „Das Oberhaupt aller Mevlevi“). Er reiste mit der Genehmigung von Celaleddin Bakir Çelebi von 1976 bis 1980 regelmäßig in die USA, Großbritannien und nach Deutschland. Überall in der Welt sind seither Mevlevi-Gemeinschaften entstanden. So auch die unsere hier.

Dr. Celaleddin Bakir Çelebis letztes großes Werk, sozusagen sein Vermächtnis, ist die Gründung der „Uluslararasi Mevlana Vakfi“ (Internationale-Mevlana-Stiftung). Diese gründete er 1996 zusammen mit etlichen Getreuen des Pfades, um den vielen, inzwischen in aller Welt existierenden, Mevlevi-Gruppen eine solide, gemeinsame Basis auf den altbewährten Grundfesten der Tradition zu bieten, aber auch, um die Spreu vom Weizen zu trennen, denn leider sind längst nicht alle dieser Organisationen im Einklang mit den Prinzipien des Pfades der Mevleviyye. Die Leiter dieser Gruppen nennen sich oftmals selbst Scheichs, arbeiten aber völlig unabhängig von der Autorität des Maqam-Çelebi und der anderen Scheichs des Ordens.

Dr. Celaleddin Bakir Çelebi formulierte daher noch kurz vor seinem Tode:

Eine der wichtigsten Rollen, welche die Stiftung [die Internationale Mevlânâ-Stiftung] übernehmen wird, soll darin bestehen, jeden über Handeln und Formen der Umsetzung zu informieren, die nicht zu dem, worauf es Hz. Mevlânâ ankam, gehören und die nicht der Lebensweise von Hz. Mevlânâ entsprechen; ebenso soll die Stiftung, so dies nötig sein wird, in anderen Punkten Klarheit schaffen. In diesem Zeitalter der Freiheit haben Menschen die Möglichkeit, sich so zu verhalten, zu denken und zu leben, wie es ihrer Persönlichkeit entspricht. Wenn jedoch solche Neigungen nicht der Kultur, dem Denken und der Tradition von Hz. Mevlânâ entsprechen – diese wurden in einem Zeitraum von über 700 Jahren bis in kleinste Detail identifiziert -, dann muss man diese Menschen als getrennt von den Prinzipien von Hz. Mevlânâ ansehen. Wir erleben heute einen ausgeprägten Mangel an Spiritualität. Manche Leute, die nach außen hin nicht voll erscheinen, aber innen dunkel sind, versuchen, sich diese Situation zunutze zu machen. Solche Leute nutzen die reine, klare Liebe von Hz. Mevlânâ aus und schaden der Sache. Ich bete zu Gott, dass es unserer Stiftung zukommen möge, die Lehren und das, worauf es Hz. Mevlânâ ankam, zu organisieren und Menschen um seine Liebe herum zu versammeln. Lasst das Licht des Islam und die Liebe von Hz. Mevlânâ mit Euch sein.

Nach dem Tod von Celaleddin Çelebi Efendi im Jahre 1996 übernahm dieses schwere Amt sein Sohn Faruk Hemdem Çelebi Efendi. Sozusagen als Erbe übernahm er den Aufbau dieser „Internationalen Mevlana Stiftung“ nach den Richtlinien, die ihm sein Vater vorgegeben hat. Unter seiner Amtsführung wurden bisher folgende wesentliche Aktivitäten gesetzt:

Die Formulierung des im Jahre 2005 akzeptierten Antrags, dass das „Sema-Drehzeremoniell“ durch die UNESCO als „Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Kulturgutes der Menschheit “ geschützt und bewahrt würde, im gleichen Maße wie die dafür bestimmten, Semahane genannten Säle, in denen diese aufgeführt wurden, sowie die als sakrale Räume geltenden Küchen und Derwischzellen der Derwischklöster, den Mevlevihanes, in denen in mündlicher Überlieferung der Sema und die Musik für die Aufführung des Zeremoniells eingeübt wurden. Der Antrag besteht aus wissenschaftlichen Informationen über das Zeremoniell (erstellt von Dr. Barihuda Tanrikorur, Prof. Dr. Walter Feldman, Reha Saghbash und anderen) und enthält musikalische Niederschriften und Übertragungen einiger Kompositionen für das Sema, viele Seiten historischer Fotografien und weitere interessante Anhänge. Die Arbeit trägt den Titel „Candidature File of the Mevlevi Sema Ceremony known historically as the Mevlevi Ayin-i Sherif of Sema Mukabele-i Sherif, The Mevlevi Sacred Rituals or Sacred Encounter of Whirling For UNESCO’s Proclamation of ‚Masterpieces of the oral and Intangible Heritage of Humanity‘ prepared by the International Mevlana Foundation for presentation by the Republic of Turkey Ministry of Culture and Tourism”, Ankara, Türkei, October 2004. Es umfasst ca. 275 Seiten und ist hauptsächlich in englischer Sprache verfasst.

Die offizielle Antragstellung von der International Mevlana Foundation, dass das Jahr 2007 von der UNESCO offiziell zum „Rumi-Jahr“ erklärt wird. Auch dieser Antrag wurde angenommen.

Einberufung internationaler Konferenzen zu Mevlana nach der Deklaration des Rumi-Jahres unter Beteiligung der drei Länder Türkei, Iran und Afghanistan im Jahr 2007. Die International Mevlana Foundation war ein Mitsponsor der internationalen Konferenzen in Istanbul und Konya im Mai 2007. Çelebi Efendi und seine Schwester Esin Bayru Çelebi waren bei der Eröffnungszeremonie in Istanbul anwesend, als dem türkischen Kultusminister, –- im Zusammenhang mit der Petition für die Anerkennung des Sema als Kulturerbe – eine Medaille von der UNESCO überreicht wurde. Beratung durch Çelebi Efendi für den Dokumentarfilm „Mevlana Jelal-u-din Rumi“, der in fünf Ländern (Türkei, Afghanistan, Schweiz, Niederlande und Deutschland) gedreht wurde. Die Aufnahmen in Deutschland fanden in unserer Dergah in Nürnberg statt. Regie führte Frau Tülay Akça. Der Film hatte in der Hauptniederlassung der UNESCO in Paris im April 2007 als Teil der Gedenkfeiern anlässlich des „Rumi-Jahres“ Premiere.) Die Restaurierung der Mevelihane von Afyon, die im Januar 2009 wiedereröffnet wurde.

Die Restaurierung des größten Mevlevi-Zentrums in Istanbul, der Yenikapi Mevlevihanesi, wofür passendes Baumaterial und sogar Verputzfarben nach den ursprünglichen Bauzeichnungen ausgewählt wurden. Ohne die unermüdlichen Bemühungen von Çelebi Efendi und seiner Schwester Esin Bayru-Çelebi wären diese Arbeiten nicht durchgeführt worden. Die türkische Regierung hat sich noch nicht endgültig zur Frage der Nutzung festgelegt. Es wurde aber von der „International Mevlana Foundation“ vorgeschlagen, ein „lebendiges Museum“ entstehen zu lassen, in dem Mevlevi-Musiker, drehende Derwische (Semazen), Kunsthandwerker und Wissenschaftler entsprechend ausgebildet werden sollen. Inzwischen wurde dies auch schon umgesetzt und es ist dort eine lebendige Organisation entstanden. Jeden Sonntag wird dort jetzt ein Sema-Ritual zelibriert und jeden ersten Samstag im Monat hält ein Scheich ein „Sohbet“ (Lehrvortrag) . Jeden dritten Samstag im Monat gibt es ein Konzert mit Sufimusik.

 

Situation in der Schweiz

Früher, als die geistige Ausbildung und seelische Festigung noch vorwiegend in Klöstern unter ständiger Begleitung und Führung geschah, gingen die im allgemeinen noch jugendlichen Schüler durch ein anspruchsvolles Programm (çile) von 1001 Tagen. Es war eine Schulung, die – nachdem die Aspiranten den Eingangstest durchgestanden hatten – fast ausnahmslos zu Resultaten führte.

Heute ist die Situation eine völlig andere: nicht nur dass keine Klöster mehr existieren, aber auch die ständige Begleitung durch den Scheich ist in der heutigen Gesellschaft fast nicht mehr möglich. Die Ausbildung, das Sensibilisieren und die Willensstärkung haben in einer Weise zu geschehen, die zur heutigen Gesellschaft passt. Die Mevlevi waren nie Fremdkörper in der Gesellschaft, sondern vielmehr willkommene Kräfte zur moralischen und ethischen Stärkung der jeweils aktuellen Gesellschaftsform.

Der Schüler von heute ist erwachsen und wählt weitgehend selbst die Intensität seiner Ausbildung. Zwang ist kein Thema, ganz im Respekt zum Korenvers 2,256: „In der Religion gibt es keinen Zwang „. Dieser Umstand verlangt aber vom Schüler – wenn er erfolgreich sein will – einen starken Willen und eine hohe Eigenverantwortung, was auch bei Erwachsenen oft fehlt. Als Stütze dient die Gemeinschaft und Freundschaft unter Gleichgesinnten, und wer „die Hand des Scheichs halten“ will, tut dies aus eigenem Antrieb. Der Scheich ist mehr Begleiter als Führer, mehr Freund als Vorsteher.

Richtschnüre

Erste Richtschnur der Arbeit ist „Adab„, der Verhaltenskodex, wie er aus dem Koran und den islamischen Überlieferungen abgeleitet werden kann. Adab ist vorerst Respekt und Liebe für den einzelnen Menschen, im Wissen, dass jeder Mensch seine eigene Schönheit besitzt – manchmal sichtbar, manchmal noch verdeckt – und dass jedes Individuum sein eigenes Geheimnis mit Gott unserem Herrn hat. Wir sind aufgefordert, uns immer wieder daran zu erinnern, dass alles, was wir sehen, erkennen und zu wissen glauben nur ein kleiner Teil der Wirklichkeit ist. Wir vermögen nie die Grösse Gottes auch nur im Ansatz zu sehen, und darum ist jede Meinung, die wir hegen, nur innerhalb unserer eigenen Beschränktheit allenfalls für eine kurze Zeit zulässig. Und so ist unsere ganze Eigenständigkeit lediglich eine Fata Morgana und unser Denken und Handeln nur dann sinnvoll, wenn wir es unter Gottes Obhut stellen.

Die zweite Richtschnur der Arbeit ist somit, dass wir ständig alles in den Kontext von Gottes Grösse stellen. In unseren Gebeten bitten wir darum, dass Gottes Segen unser Denken und Handeln begleite, auf dass es Teil seines Willens sein möge. Der Mevlevi ist sich bewusst, dass Erwartungen die Tendenz haben, ihn vom Bewusstsein über die Wirklichkeit wegzubringen und dass jedes kritische Urteil, das er oder sie über eine Person fällt, schnell mal der Besonderheit dieser Person vor Gott nicht mehr gerecht wird.

Universalität

Die Grossartigkeit des Islams für die heutige Zeit ist seine Eindeutigkeit und Klarheit. Islam ist Religion und Philosophie in einem. Alles wird wieder und wieder in den Kontext der Einheit allen Seins unter Gottes Allmacht gestellt. Die Grösse der islamischen Botschaft lässt sich nie und nimmer in den Rahmen einer bestimmten Gesellschaftsstruktur einkerkern. Und trotzdem haben traditionelle Rituale ihren unschätzbaren Wert, tragen sie doch etwas von der Kraft und Hingabe in sich, die jede und jeder Suchende in der Vergangenheit hineingetragen hatte. Durch das Verbundensein mit dem Mevlevitum erfährt die/der Aufrichtige zusätzlich die hintergründige Kraft des Islam und der Propheten.