Was bleibt von uns nach dem Tod des Leibes? (März 2019)

Was bleibt von uns nach dem Tod des Leibes? – eine sufistische Sicht 

Auszüge aus dem Referat im Kloster Gut Saunstorf, 22.-24. März 2019

Das dazugehörige Modell kann durch klicken auf den Link „Graphik Nafs“ am Ende des Textes gesehen werden.

 

Inhalt:

  1. Kurzinformation über Sufismus und grundsätzliche Thesen
  2. Auch das Aussen, nicht nur das Innen!
  3. Der leibliche Tod und die Zwischenwelten
  4. Spekulationen: Was bleibt nach dem leiblichen Tod übrig?
  5. Ausklang

 

Kurz etwas über den Kontext und über grundsätzliche Thesen

Aus meiner Sicht ist jeder aufrichtige spirituelle Weg eine Hilfe zur Orientierung in Hinblick auf das nicht Begreifbare und nicht Erklärbare. Mit welchen Bildern wir auch immer das Unbegreifliche angehen: wir werden die letztendliche Wahrheit nie schmecken, ohne dass wenigstens ein Teil unseres Selbst dabei untergeht. Ein oft zitiertes Bild der Sufis (vermutlich von Mansur Halladsch stammend, gest. 922) beschreibt die Motte, welche sich in der Nacht von einer Kerze angezogen fühlt und um diese herum flattert, bis sie in ihrer Sehnsucht nach dem Licht in die Flamme stürzt und verbrennt.

Sufis sind im Islam eingebettet, und damit orientiert sich ihre Gotteserkenntnis mittels den Bildern des jüdischen Monotheismus, der auch die Grundlage des Christentums ist. Gemäss der monotheistischen Vorstellung besteht die Schöpfung aus zwei Welten, dem Diesseits und dem Jenseits, die sich gegenseitig bedingen und sich gegenseitig Sinn verleihen. Aus Sicht der Sufis sind beide gleichwertig, und beide beinhalten das Gute und das Böse. Wenn wir von Gottesnähe sprechen, nach der sich die Sufis sehnen, dann entspricht das einer Berührung mit der anderen Welt, dem Jenseits. Erst in Verbindung mit diesem Hintergründigen kann der Mensch ganz und vollkommen sein und „vor Gott stehen“ (labaik Allah!). Das hintergründige Jenseits ist auch nur ein Teil von Gottes Schöpfung. Gott hält Seine Schöpfung wie eine Münze in Seiner Hand; die eine Seite der Münze ist das Diesseits, die andere ist das Jenseits. Doch Er ist grösser als Seine Schöpfung. Dies ist die Bedeutung des Ausrufs Allah-hu akbar(Gott ist gross und immer grösser als das Grösste).

Die Berührung mit dem Jenseits ist zentral auf dem Weg der Sufis. Es ist eine subjektive Erfahrung, die sich unserer Ratio weitgehend entzieht. Die Kräfte des reinen Jenseits sind qualitativ aber raum- und zeitlos; sie nehmen erst mit dem Annähern ans Diesseits räumliche und zeitlich bedingte Formen an. Eine jenseitige Qualität, die sich – aus welchem Grund auch immer – im Diesseits manifestieren will, ist auf ein empfangendes Gefäss in dieser Welt angewiesen. Was wir an Charakter solchen Kräften anbieten, wird die Form des wirkenden Geistes bestimmen. Kurz gesagt: Inspiration, Visionen und Erleuchtungen sind affin mit unserer Individualität – also mit dem, was uns Individuen ausmacht. Wenn wir etwas an der Qualität der uns erreichenden Bilder und Kräfte ändern möchten, müssen wir an unserer Individualität arbeiten. In der Sprache der Sufis heisst dies: wir müssen unsere Seele reinigen, denn

Der Wein nimmt die Form des Glases an. 

Der Wein steht für den Geist (ruh) und das Glas für unsere Seele (nafs). So wie wir geformt sind, so wird der Geist geformt sein, wenn er sich in und durch uns manifestiert.

So können wir erkennen, dass es kein Standard-Erlebnis des Jenseitigen gibt. Das, was uns hier in dieser Welt ausmacht, wird das Erleben bestimmen. Bei den einen wirkt die Berührung mit dem Jenseits überwältigend und lebensverändernd, bei den anderen geschieht es in feinen ruhigen Schritten. Für die einen wirkt es als Aufforderung zu Taten, bei anderen kommt es als Bestätigung für das, was schon ist.

Der Wein nimmt die Form des Glases an – weitere Hinweise, die dazu passen:

  • Der Koran ist in diesem Punkt deutlich (14:4): Und wir schickten keinen Gesandten, es sei denn in der Sprache seines Volkes, damit er sie wirksam aufkläre.
  • Unser Prophet Muhammed berichtete, dass anlässlich seiner ersten göttlichen Offenbarung ihm der Engel Gabriel erschien und ihn zur Weitergabe des Offenbarten zwang. Gabriel gehörte zu den religiösen Vorstellungen Muhammeds – den Islam gab’s noch nicht. Wäre Muhammed ein Hindu gewesen, hätte er eine hinduistische Gottheit erlebt und nicht Gabriel.
  • Wenn in einer spiritistischen Sitzung ein deutsches Medium einen Apostel Jesu empfängt, dann spricht dieser Apostel durchs Medium nicht etwa in seiner aramäischen, hebräischen oder lateinischen Muttersprache. Er spricht Deutsch im Dialekt des Mediums.

Im Islam entwickelte sich schon etwa ab dem 10. Jhd. ein erstaunliches Wissen über die Psychologie. Diese schliesst das Vorhandensein des Jenseitigen mit ein – im Wissen darum, dass beide Welten uns beeinflussen. Wir können das „Spirituelle Psychologie“ nennen. Es ist ein Modelldenken, das verschiedene Varianten kennt, je nach Schule. Ich verwende ein weit verbreitetes Modell in einfacher Form (siehe das Modell durch klicken des Links am Ende des Textes).

  • Jeder Mensch ist ständig in Berührung mit dem Jenseits, doch die meisten Menschen sind sich dessen nicht bewusst. In Momenten der Ergriffenheit, eines Schocks oder auch einfach im konzentrierten Dasein fallen wir in die Gegenwart, ins „Hier und Jetzt“, und der Zugang zur anderen Welt öffnet sich. Die Seele wird von geistigen Kräften ernährt und allenfalls überflutet. Je nach Zustand der Seele wird ein solches Erleben schön oder unangenehm sein.
  • Im Alltag beschäftigen wir uns vorwiegend mit Vergangenem oder Zukünftigem. Dadurch sind wir vor Signalen aus der anderen Welt verschont, aber wir behindern damit mögliche Inspirationen und Visionen. Bei den Sufis wird gesagt, dass der (nostalgische) Blick in die Vergangenheit und der (ambitionierte) Blick in die Zukunft zu den grössten Hindernissen auf dem spirituellen Weg gehören.
  • Wie gesagt: die Beschäftigung mit uns selbst und der Welt be-hindert, dass Signale, Hinweise und Warnungen unser weltliches Wohlbefinden stören, doch ver-hindern können wir den Einfluss des Jenseits nicht. Eine unbewusst Berührung mit der anderen Welt ist ständig da und beeinflusst unser Schicksal.
  • Wir können das Jenseits als göttliches Angebot sehen – Gott streckt uns die Hand zu. Im Islam sprechen wir von der alles überdachenden Barmherzigkeit Gottes (ar-Rahman), die immer und ohne Unterbruch da ist. Es ist Seine Antwort auf unsere innere Sehnsucht nach unserem Ursprung, die in jedem Menschen eingepflanzt ist.
  • Eine ständige Überflutung aus dem Jenseits wäre nicht auszuhalten. Inspiration, Geistesblitze, Erleuchtung und ähnliche starke Erlebnisse mit dem Jenseits geschehen in beschränkten Zeitabschnitten und Augenblicken. Im so genannten „normalen Leben“ sind wir viel mit Vergangenem oder Zukünftigem beschäftigt, und das ist gut so und nicht zu verteufeln. Gott wollte es, dass unser Leben in der relativen und dualen Welt Teil unserer spirituellen Reise ist.

 

Auch das Aussen zählt, nicht nur das Innen 

Sufis suchen einen Weg mit einem Fuss in dieser und mit dem anderen Fuss in der anderen Welt. Unsere Aufgabe ist das Zusammenführen beider Welten. Das Ritual des Sema, welches unser Orden besonders pflegt, symbolisiert dies in vieler Hinsicht.

Die Berührung mit dem Jenseits geschieht nicht einzig auf dem Weg nach innen. Gottes Schöpfung hat auch eine transzendente Seite, die wir nicht vernachlässigen sollten. Hinter allem äusserlich Erkennbaren liegt verborgen das Hintergründige. In den Erscheinungen dieser Welt schimmert immer etwas vom Jenseits durch. Wir erleben das in dem, was wir „zufällig“ mit den Sinnen wahrnehmen, oder in unerwarteten Geschehnissen. Wenn etwas uns beeindruckt, dann deswegen, weil es uns etwas erzählen will, weil es etwas von uns widerspiegelt. Das kann positiv oder negativ sein, in Schönheit oder Hässlichkeit, zart oder gewaltsam. Eine starke Berührung mit dem Jenseits ist von Angesicht zu Angesicht über den Augenkontakt.

So können Sie verstehen, warum Sufis nicht nur am Inneren, sondern gleichfalls und gleichwertig am Äusseren arbeiten. Taswufist die innereSeite der Arbeit, undSchariaist die äussere. Für die Sufis ist das weltliche Diesseits weder eine Illusion noch ein Übel. Es ist das notwendige Gefäss, aus dem der geistige Wein getrunken werden kann.

Jegliche Form von Extremismus ist im Islam und somit auch im Sufismus verpönt, sei es das Zölibat, die gesuchte Armut oder der asketische Rückzug aus der Gesellschaft. Der Islam versteht sich als Weg der unvollkommenen Mitte. Mitten im Leben sollen wir das Göttliche erkennen und so uns lösen vom Gebunden-sein an uns selbst. Und so ist auch verständlich, warum das gute Benehmen (adab) ein fester Bestandteil jedes Sufi-Weges ist.

Formen sind wichtig. Unser Dasein in Raum und Zeit ist das mögliche Gefäss für den drängenden Geist aus dem Jenseits. Das Nutzen von Raum und Zeit in rituellen Handlungen ist unsere Form des gezielten Zugangs zum raum- und zeitlosen Jenseits. Wir haben Mühe mit der verbreiteten Vorstellung, dass Heilige „nicht mehr auf die Form angewiesen seien“. Alle Menschen (auch Propheten inkl. Jesus, Heilige und Meister) waren und sind auf Formen angewiesen, um sich aus eigenem Antrieb mit dem Jenseits zu verbinden. Rumi sagt (Fihi ma fihi, Rede 38, Übersetzung Annemarie Schimmel):

Wenn du nur den inneren Kern einer Aprikose in die Erde pflanzt, wächst nichts; wenn du ihn mit der Schale pflanzt, dann wächst es. So erfahren wir, dass auch die Form eine Funktion hat. Gebet ist auch im Inneren; es gibt kein Gebet ohne die Anwesenheit des Herzens. Aber du musst unbedingt das Gebet in Form bringen und die äussere Kniebeuge und Prostration vollziehen, dann hast du einen Anteil am Segen und erreichst deinen Wunsch. ….. Nun, der Geist hat keine Beugungen und Prostrationen, aber in der Form muss man diese Beugungen und Prostration manifestieren. Denn es besteht eine Einheit zwischen Sinn und Form; solange die beiden nicht zusammenkommen, bringen sie keinen Nutzen, so, wie aus dem Aprikosenkern, den du ohne Schale pflanzt, nichts wächst. 

 

Der leibliche Tod und die Zwischenwelten 

Die Frage „Was geschieht nach dem leiblichen Tod?“ könnte als unsere wichtigste Frage gesehen werden. Alle Religionen mit ihren Theologen und Philosophen versuchen, auf diese Frage Antworten zu finden. So ist es nicht verwunderlich, dass so genannte „Totenbücher“ aus unterschiedlichen Kulturen und Traditionen überliefert sind, wie das Tibetanische Totenbuch (Beschreibung des Zwischenzustandes „Bardo“) oder das Islamische Totenbuch (Beschreibung des Zwischenzustandes „Barzakh“). Aber auch Schriften wie die „Offenbarung des Johannes“ am Ende der Bibel verweisen mahnend auf das baldige Ende, mit dem jeder Mensch konfrontiert sein wird (ums Jahr 90 geschrieben; Verfasser ist nicht bekannt; Vers 1:1: „was bald geschehen muss“).

Der Autor des Islamischen Totenbuchs, von dem in Leipzig, Dresden und London je eine Abschrift existiert, ist nicht bekannt. Aufgrund des Korans und der Hadithen wird darin in bilderreicher Sprache beschrieben, was die Seele nach dem leiblichen Tod, beim Jüngsten Gericht sowie in der Hölle oder im Paradies erlebt. Ich will darauf im Einzelnen nicht eingehen, da vieles darin erklärungsbedürftig ist.

Der Koran 89:24) warnt die Menschen, die sich nicht mit dem Jenseits beschäftigen wollen:

Sprechen werden sie dann (am Tag des Gerichts): „O dass ich doch für mein Leben etwas vorausgeschickt hätte!“ 

Und Rumi fordert uns auf seine Weise auf, sich um das Nachleben zu kümmern (Mesnevi 1:3686 f):

Ausser Liebe zu Gott dem Schönsten ist alles, auch wenn es süss ist, Tod der Seele. Was ist Tod der Seele? Sich dem (leiblichen) Tod nähern und das Wasser des (ewigen) Lebens nicht ergreifen. 

Vom Körper wissen wir, dass er zu Staub zerfällt, wenn wir sterben. Oder er wird verbrannt, und es bleibt nur noch Asche übrig. Der physische Körper überlebt den Tod nicht. Doch unsere Seele (nafs) wird nach dem Tod weiter existieren, Teile davon bewusst und andere unbewusst. Wie können wir uns das vorstellen?

Ich wiederhole: Wenn dem Geist (ruh) die Gelegenheit gegeben wird, aus dem raum- und zeitlosen Jenseits ins Diesseits zu dringen, wird er jenen Charakter annehmen, den er in uns antrifft. Der Geist kann keine andere Form annehmen als das, was in uns vorhanden ist. Der Geist, der uns berührt, wird so positiv sein, wie wir selbst in unserer Seele positiv sind. Und er wird so negativ sein, wie wir in unserer Seele negativ sind. In anderen Worten: wenn wir uns fürs Jenseits öffnen, nimmt der Geist jene Qualitäten an, die wir als empfangendes Gefäss in Raum und Zeit zur Verfügung stellen.

Somit können im Menschen sowohl engelhafte als auch teuflische Geistesqualitäten zur Geltung gelangen. Vieles geschieht unbewusst, und allenfalls leiden wir an solchen Wirkungen. Sich dessen bewusst zu werden und damit umgehen zu können ist ein wesentlicher Teil des Sufi-Weges (tarikat). Mit bewusstem Reinigen der Seelenschichten werden Änderungen bewirkt. Das ist das Ziel sufistischer Übungen.

Die Einwirkung des Geistes kann bewusst mittels Ritualen gesteuert werden. Die damit verbundene Absicht gibt dem Ganzen die Färbung. Der Mensch kann durchaus Geist-Kräfte an sich ziehen, die verschmutzen statt reinigen und ein egoistisches Begehren bestätigen statt bekämpfen. Auch das geschieht rituell. Je nach Absicht sprechen wir von weisser oder schwarzer Magie.

Ein Hinweis zur Fürbitte (eine Form des du’â‘):

Wenn wir um das Wohl eines Mitmenschen beten, dann wirken persönliche Wünsche magisch mit. Es ist ein Unterschied, ob ich meinem Kind im Gebet das Erreichen besserer Noten in der Mathematik wünsche, oder ob ich in offener Haltung für sein Lebensglück bete.

Viele Menschen konnten beim Sterben des leiblichen Körpers diese Welt nicht ganz loslassen. Darum gibt es zuhauf Seelenreste verstorbener Menschen, die als unerlöste Wesen in den Zwischenwelten umherirren und sich bemerkbar machen. Gemäss der islamischen Überlieferung leben dort aber auch Wesen, die von Anbeginn durch Gott erschaffen wurden. Sie werden Jinngenannt. Auch ist überliefert, dass in diesen Welten Wesen mit kosmischem Auftrag wirken: Das Wesen Khidr, das im Koran eindrücklich beschrieben ist, erscheint unerwartet als menschliche Gestalt dort, wo ein Eingreifen Gottes nötig wird.

Es gibt medial veranlagte Menschen, die sich mit zwischenweltlichen Geistern verbinden können. Das ist eine heikle Angelegenheit, denn woher nimmt ein solches Medium die Zuversicht, mit einem förderlichen Geist verbunden zu sein? Wer sich im Bereich des Spiritismus etwas schlau macht, wird erstaunliche aber auch sonderbare Phänomene antreffen. Es schwirren unglaublich viele subtile Wesen herum, und wo sie können, manifestieren sie sich. Es gibt darunter liebevolle aber auch unangenehme Wesen, die meisten in unruhigem Drang nach Realisierung unerfüllter Erwartungen. Wer dafür sensibel ist, spürt die Anwesenheit solch unerlöster Seelenfetzen und leidet, wenn es unangenehme Wesen sind.

Wie können wir die Spreu vom Weizen trennen? Wie können wir uns vor egoistisch-ambitionierten Wesen schützen? Unsere Antwort ist:

  1. Die Zugehörigkeit zu einer bewährten religiösen Praxis schützt uns vor schlechten Einflüssen aus den Zwischenwelten, und
  2. die religiöse Praxis ermöglicht den förderlichen Zugang zum Jenseits.

In anderen Worten: wir üben die Gegenwärtigkeit – das „Hier und Jetzt“ – im geschützten Rahmen einer bestehenden Tradition. In der rituell erreichten förderlichen Atmosphäre diffundiert die Geisteskraft in unsere Seele, etwa so wie Wasser in einen trockenen Schwamm sickert. Die Seele wird „benetzt“, die Seelensubstanz transformiert sich dank dieser Geisteskraft.

Wie können wir uns die Benetzung unserer Seelenschichten konkret vorstellen? Sie geschieht förderlich oder schwierig/herausfordernd oder zerstörerisch:

  • Allein schon der aufrichtige Glaube an die Verbundenheit mit dem Geistigen veranlasst im Jenseits eine erste Bewegung: der Geist diffundiert in den subtilsten Teil der Seele („beruhigte Seele“,nafs al-motma’ene). Das geschieht ganz tief in der Herzensmitte – fast unauffällig – und stärkt die Gewissheit und somit den Glauben. Gläubige zeichnen sich dadurch aus, dass ihr subtilster Seelen-Teil vom jenseitigen Geist berührt wird. Im guten Fall wird der Glaube demütig sein (Islam = Hingabe, Frieden). Die religiöse Praxis unterstützt eine demütige Haltung. Der Glaube kann aber auch Züge der Selbstüberzeugung annehmen, wenn das Rituelle zum narzisstischen Sich-selbst-Betrachten im Spiegel wird und der Selbst-Erhöhung und Überheblichkeit dient.
  • Die zweitfeinste Schicht der Seele („Inspirierte Seele“, nafs al-molhama) erfährt den Geist durch den Vorgang der Inspiration. Jeder Mensch kann Inspiration erfahren, nicht nur Künstler und Schriftsteller. Allein schon der Drang, etwas wissen und erkennen zu wollen, wird mit inspirierenden Impulsen aus dem Jenseits beantwortet. Der Prophet Muhammed sagte: „Suche nach Wissen, auch wenn du dafür bis nach China reisen musst!“Der Drang nach Wissen wirkt wie ein Gebet, wie eine Anrufung des Jenseits. Die Benetzung der inspirierten Seelenschicht durch den jenseitigen Geist zeigt sich in Erkenntnissen und Bildern, die den Wissensdurstigen oder Künstler weiter bringen. Solche inspirierte Erkenntnisse und Bilder können nützlich, unnütz oder auch zerstörerisch sein, je nach dahinter liegender Qualität der Wünsche und Ambitionen.
  • Bei der zweituntersten Seelenschicht („Lamentierende Seele“, nafs al-lawwame) sowie der untersten Seelenschicht („Befehlende Seele“, nafs al-ammare), die auch „Triebseele“ genannt wird, braucht es viel, bis dort der Geist wirken kann. Diese Schichten sind Träger der Emotionen und Gedanken, die auch von Mitmenschen beeinflusst werden. Solange in diesen Schichten die Fantasien, Emotionen, Ambitionen und Triebe chaotisch und unkontrolliert wirken, wird die Wirkung durch den Geist auch chaotisch sein. Doch wenn dort Ordnung herrscht, werden eindeutige Räume für den drängenden Geist geöffnet. Ein geordnetes Leben – also nicht an einem Tag so und am anderen Tag anders – erlaubt es dem Geist, in die unteren grobstofflichen Schichten zu diffundieren und diese zu „benetzen“. Und wie manifestiert sich eine geistige „Benetzung“ der zwei grobstofflichen Seelenschichten? Sie zeigt sich als charismatische Persönlichkeit, die gerne zum Vorbild genommen wird. Im Rahmen des Religiösen sind das Heilige und Meister. Im Rahmen des Weltlichen können das Unheil stiftende charismatische Führer, falsche Propheten oder Magier sein.

Unsere Seele mit ihren unterschiedlichen feinstofflichen Schichten ist Trägerin unseres Ich-Gefühls und Selbstbewusstseins. Sie formt unsere Identität, und sie verhält sich wie ein störrischer Esel, der sich freiwillig nicht erziehen lässt. In Sufi-Geschichten bedeutet der Esel meistens die unerzogene Seele. Die Natur widersetzt sich dem, was wir „die Reinigung der Seele“ nennen. Wer spirituell praktiziert kennt das. Wenn wir unsere Seelenschichten reinigen, rauben wir ihnen ihre Selbstbestimmtheit und unterordnen sie einer höheren Instanz. Der dadurch erfolgte Identitäts- und Selbstverlust fühlt sich wie ein Sterben an. In der spirituellen Praxis heisst es ja „Stirb, bevor du stirbst!“ Unser Selbst wehrt sich mit allen Mitteln dagegen.

Wer von uns will nicht „jemand sein“! Und wer von uns will nicht ewig leben! Das kennen wir doch alle! Unser Bedürfnis nach Grösse, Selbstbestimmung und Aufmerksamkeit sind typische Hinweise auf unsere selbstbestimmende Seele, und jede Überheblichkeit und Rechthaberei zeugt davon. Und natürlich möchte die Seele sich mit dem Geist verbinden! Warum? Um als vom Geist benetzte Seele ewig leben zu können! Ja, aber das soll ihrem Geschmack entsprechen und ihr Selbstverständnis bestätigen! Die von ihr angezogenen Geistesqualitäten sollen von ihrer Art sein!

Rumi fordert uns auf, vor der Seelenreinigung, also vor dem „Stirb, bevor du stirbst“ keine Angst zu haben:

Ich starb als Mineral und wurde zur Pflanze;
dann starb ich als Pflanze und wurde zum Tier.
Ich starb als Tier und wurde ein Mensch;
was sollte ich also fürchten? Wann hat mich der Tod geringer gemacht?
Beim nächsten Mal sterbe ich als Mensch, um mit den Engeln zu fliegen.
Und selbst als Engel muss ich weichen, denn alle Dinge vergehen ausser Seinem Angesicht (Koran 28:88).
Und wieder werde ich geopfert und als Engel sterben;
ich werde etwas Unvorstellbares werden.
Dann werde ich zu Nichtsein;
Schön wie eine Orgel singt das Nichtsein zu mir: „Siehe, zu Ihm kehren wir heim“ (Koran 2:156).

(Mesnevi 3:3901 ff; siehe auch 4:3637 ff)

 

Spekulationen: Was bleibt nach dem leiblichen Tod übrig? 

Aufgrund des soweit Gesagten will ich diese Frage folgendermassen beantworten:

Der Körper zerfällt zu materiellem Staub. Übrig bleibt unsere Seele mit den Seelenschichten und ihren Qualitäten. Ein Teil davon wird bewusst bleiben und uns als jenseitiges Wesen ausmachen, und ein anderer Teil bleibt unbewusst. Sowohl das Bewusste als auch das Unbewusste wird von jener Qualität sein, die dem vergangenen weltlichen Lebenswandel entspricht. Das, was uns im Leben am stärksten beschäftigte, wird im Nachleben unser Bewusstsein bestimmen.

In präzisere Aussagen will ich mich nicht wagen. Letztendlich wissen wir nicht, wie es genau sein wird. Die Bibel und der Koran sprechen vom Tag der Abrechnung am Jüngsten Gericht; es ist der Scheideweg zum Paradies oder zur Hölle – vielleicht auch nur zum Fegefeuer. Solche Bilder können uns heutzutage nicht mehr befriedigen, ausser wir finden eine aktuelle Deutung.

Im Islam sind Prophetenworte (hadith) überliefert, die davon sprechen, dass Jesus derzeit im Vierten Himmel weilt und eines Tages wieder kommen wird, um gegen den Antichristen (al-daddjâl) zu kämpfen und ihn zu töten. Er wird auf dieser Welt für Ordnung sorgen und Gerechtigkeit bringen. Nach 40 Jahren des Regierens wird er sterben und unmittelbar neben Muhammed in Medina bestattet. In der Tat gibt es neben Muhammeds Grab in Medina im heutigen Saudi Arabien ein leeres Grab, das für Jesus bestimmt ist. Kurz nach Jesu zweitem Tod folgt der Tag des göttlichen Gerichts, bei dem Muhammed für die Muslime, Jesus für die Christen und die alttestamentlichen Propheten für die Juden als Fürsprecher und Ankläger handeln werden (Koran 4:159, 7:6, 33:7-8). Alle Menschen werden leiblich – also mit ihrem materiellen Körper (!) – aus ihren Gräbern auferstehen und beurteilt. Schon darum werden verstorbene Muslime möglichst schnell innert einem Tag gewaschen und vergraben.

Solche Vorstellungen werfen Fragen auf. Wo wartet unsere Seele, bis sie fürs letzte Gericht den ursprünglichen Körper wieder belebt? In welchem Alter wird unser Körper sein, wenn wir auferstehen? Werden wir als gebrechlicher Greis oder mit unserem jugendlichen Körper vors Gericht treten und allenfalls später im Paradies spazieren und uns vergnügen? Und wie sieht die Zeit in der Hölle aus?

Über das Geschehen nach dem Tod existieren nur spekulative Kenntnisse, und schon allein deswegen konzentrieren wir uns vertrauensvoll auf dieses eine Leben. Was nach unserem irdischen Dasein genau sein wird, soll uns weder beängstigen noch verwirren noch ablenken, auch wenn wir über das Leben nach dem leiblichen Tod keine klare Vorstellung haben.

Nun bin auch ich ein Charakter, der so weit als möglich verstehen will. Um meine Vernunft zu befriedigen und meinen Verstand zu beruhigen, orientiere ich mich unter anderem an den aktuellen Kenntnissen der Physik:

Mit den Entdeckungen Albert Einsteins (Relativitätstheorie) wissen wir, dass die Zeit an die Gravitation und damit an die Materie gebunden ist. Somit ändert sich unser Gefühl der Zeit, wenn wir nicht mehr in einem Körper inkarniert sind. Es ist durchaus denkbar, dass eine vor fünftausend Jahren gestorbene Person diese scheinbar lange Zeit lediglich wie den Bruchteil einer Sekunde erlebt hat. Wenn dem so ist, sind alle bisher Verstorbenen immer noch im Sterbeprozess, der in Zukunft auf einen einzigen Endpunkt, dem so genannten „Letzten Gericht“ zusteuert.

Das wohlwollende Erinnern an verstorbene Verwandte und Bekannte sowie die Fürbitte machen für mich Sinn. Wenn die von mir geliebten Verstorbenen sich tatsächlich noch im Sterbeprozess befinden, habe ich immer Gelegenheit, in der Einkehr ihnen gegenüber meine Dankbarkeit und Verbundenheit auszudrücken. Und das tut ihnen gut, und wohl auch mir selber.

Wenn wir leiblich sterben, sehen wir vor uns unser gesamtes Leben. Und wir treffen als seelische Wesen auf bereits gestorbene Nahestehende. Je nach Lebenswandel und Bestand unserer Seele werden wir von Lichtwesen empfangen, oder wir werden mit schmerzlichen Situationen konfrontiert, die nachträgliche Verzeihung und Versöhnung fordern. An eine ewige Verdammnis in der Hölle glaube ich nicht, aber schmerzliche Übergänge zum Besseren wird es sicher geben.

 

Ausklang 

Was nach dem körperlichen Tod geschieht, wird die Menschheit als  Frage immer beschäftigen. Rumi fordert uns auf, in dieser Frage zu verharren (Mesnevi 2:941 ff):

Am Tage des Todes werden deine Sinne ausgelöscht: Hast du das Seelenlicht, das der Gefährte deines Herzens sein sollte? Wenn dir der Staub im Grab die Augen verschliessen wird, hast du etwas, um das Grab zu erhellen? Wenn deine Hände und Füsse zerfallen, hast du dann die Flügel und Federn, mit denen deine Seele auffliegen kann? 

Ich beende dieses Referat mit einem persönlichen Zeugnis:

Ich möchte mit reinem Gewissen und befreit von jeglicher Verpflichtung diese Welt verlassen können. Niemand soll wegen meinem Weggehen zu Schaden kommen. Mein „Sterben bevor ich sterbe“ beginnt mit dem Begleichen aller Schulden, welcher Art auch immer. Und nicht nur von Schulden möchte ich frei sein, sondern ebenso von Nostalgie, von Ambitionen und von jeglichem Begehren, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Nichts mehr soll mich an dieses Dasein binden. Mit Rumi als Vorbild übe ich mich – soweit ich dazu fähig bin – im „Nicht mehr jemand sein zu wollen“.

Ich benötige Gottes Hilfe, um meine Schritte zu tun und die wirkliche Freiheit zu erlangen.  Ein Gebet des Schweizer Heiligen Niklaus von Flüe (1417-1487) begleitet mich:

Oh mein Gott und mein Herr,
nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen Dir.

Oh mein Gott und mein Herr,
nimm von mir alles, das mich hindert zu Dir.

Oh mein Gott und mein Herr,
gib mir alles, was mich führet zu Dir.

Amen. 

 

 

Zitate aus dem Koran gemäss der Übersetzung von Max Henning.

Zitate aus dem Mesnevi mit freundlicher Genehmigung durch die Übersetzergemeinschaft
Bernhard Meyer, Kaveh und Jilla Dalir Azar. 

 

Graphik Nafs