Kontemplation und Aktion, Akademie Loccum (November 2009)

Rechtes Handeln im Sufismus

Loccum 20.-22. November 2009

(Die männliche Form einiger Wörter und Ausdrücke schliesst die Frauen nicht aus.)

 

Vorbemerkung: Unterschiedliche Deutungen der islamischen Offenbarung, die weit auseinander liegen

Aus Sicht des Islam bedeutet „Rechtes Benehmen“ vorerst, die Gepflogenheiten des Propheten Mohammed (Gottes Friede und Segen seien mit ihm) nachzuahmen, soweit dies für einen gewöhnlichen Menschen möglich ist. Denn im Koran steht deutlich, dass der Prophet das schönste Vorbild ist. Die Schwierigkeiten beginnen dann, wenn es um die Praxis geht. Als Beispiel kann die Frage der Frauenrechte dienen: Hz. Mohammed war zweifelsohne derjenige Prophet, der für die Rechte der Frauen am meisten gekämpft und erreicht hat. Nun meint die Mehrheit der Muslime, dass das im 7. Jahrhundert Erreichte als fixes Vorbild für alle Zeiten zu gelten hat, während von einer Minderheit die Meinung vertreten wird, dass wir Muslime des Propheten Haltung mit dem Wunsch nach Gleichberechtigung zum Vorbild nehmen sollten. Der Streitpunkt ist also, ob des Propheten Absicht oder der damals verfügte Vollzug zum Vorbild genommen werden soll.

Je nach dem, wie die koranische Offenbarung gedeutet und verstanden wird, resultieren frappant unterschiedliche Anwendungen. Von einer rationalen Seite beleuchtet erscheint der Prophet als Mensch wie alle anderen, mit den normalen menschlichen Bedürfnissen und Zwängen, aber mit der schwierigen Auflage, sich von Gott instrumentalisieren zu lassen. Und in diesem jahrelangen Zustand der Hingabe an Gott ist er dann zu einer hervorragenden Führungsgestalt herangewachsen. Hz. Mohammed war so gesehen während seinem ganzen Leben selbst ein Lernender, und mit ihm die Gemeinde, die sich ihm anschloss.

Eine grosse Mehrheit der heutigen Muslime – im folgenden „traditionelle Muslime“ genannt – denkt anders und argumentiert auf Basis der fünf grossen Rechtsschulen. Vereinfacht gesagt glauben sie, dass Hz. Mohammed schon von Anbeginn ein vollkommener Mensch (Insan-i Kamil) war, der beschnitten geboren wurde und als Geist schon vor Adam existierte. Und folglich war jede seiner Handlungen von Anbeginn vollkommen und noch heute materiell als Vorbild zu nehmen. In diesem Licht wird unser Propheten zu einer Lichtgestalt erhoben, die in der Wahrnehmung der gläubigen Muslime ebenso bedeutungsvoll ist wie Hz. Jesus bei den Christen.

Für unser Thema macht es einen grossen Unterschied, von welcher Ecke die Geschehnisse des 7. Jahrhunderts um Hz. Mohammed beleuchtet werden. Der Streit zwischen diesen Sichten bewegt den Islam seit dem Tode des Propheten. Damit verbunden ist auch die Frage, ob der Koran Gottes Wort ist oder lediglich ein Text, der die göttliche Botschaft möglichst gut zu wiedergeben versucht. Und daraus folgt die Frage, ob es für den normalen Gläubigen erlaubt ist, mit seiner eigenen Vernunft den Koran zu interpretieren.

In westlichen Kreisen wird manchmal die Hoffnung ausgedrückt, dass der Sufismus – also die islamische Mystik – eine Vernunft betonte Sicht vertritt und damit in Konflikten zwischen Ansprüchen der Aufklärung und dem Islam als Brücke dienen könnte. Diese Hoffnung wird ergebnislos bleiben, denn Sufis gehören nicht generell dem einen Lager an. In beiden ist Mystik möglich; in beiden existieren Wege zur letztendlichen Hingabe an den Willen Gottes (Fana fi Allah). Selbst in unserem Orden der Mevlevi (Mawlawyya) sind beide Seiten vertreten. Über dieses Thema sprach ich hier am 18. November 2007. (Siehe Publikation Loccum 66/07 „Die unbekannte Seite des Islam“)

 

Wo beginnt rechtes Handeln?

 Beim Betrachten der Welt und Lesen sowohl seriöser als auch unseriöser Berichte ergreift mich oft ein Ohnmachtgefühl ob dem Ausspielen der persönlichen Macht (auch die Macht durch Popularität). Seien es Politiker, Wirtschaftsbosse, religiöse Führer, Schauspieler, Künstler oder auch Sportler: überall wird das zur Schau Stellen des persönlichen Einflusses öffentlich zelebriert und von Bewunderern beklatscht. Es sind nicht nur die Mächtigen selbst, die mir wehtun, sondern weit mehr die Masse der Bewunderer, die ihre Macht ebenso ausbauen würden, wenn sie es nur könnten. Das alles funktioniert, weil in der ganzen Welt dem gleichen Gott gehuldigt wird, nämlich dem Gott des Profits.

Da ich zu den Vielen gehöre, die aufs Weltgeschehen keinen direkten Einfluss nehmen können, verbleibt mir allein das rechte Handeln in meinem persönlichen Aktionsgebiet. Genau das lehren die heiligen Bücher, und ich soll lernen, mit dem mir gegebenen Aktionsgebiet zufrieden zu sein, und ich soll das Vertrauen haben, dass es nicht umsonst ist. „Liebe Deinen Nächsten“ steht in den jüdischen Schriften – und Jesus (Gottes Friede und Segen seien mit ihm) hat dies wieder in Erinnerung gerufen. Die Nächstenliebe gilt auch für Muslime, für die unter Berücksichtigung der Korrekturen durch den Koran die jüdischen Offenbarungen sowie die Lehren von Hz. Jesus bindend sind. Der Koran weist auch direkt darauf hin: „Siehe, Allah gebietet, Gerechtigkeit zu üben, Gutes zu tun und die Verwandten zu beschenken und verbietet das Schändliche und Schlechte und Gewalttat. Er ermahnt euch, auf dass ihr es zu Herzen nehmet.“ (16:90) So gesehen kann das „rechte Handeln“ als die Praxis der Nächstenliebe verstanden werden.

Die Nächstenliebe führt zur Dialogfähigkeit und damit zu einer gesunden Gesellschaft.  Menschen die glauben, im Besitze der alleinigen Wahrheit zu sein, sind nicht dialogfähig. Ohne vom anderen lernen zu wollen, ist lediglich ein Informationsaustausch und Verhandeln möglich, wo bestimmte Meinungen vertreten werden. Leider scheint das in unzähligen Foren mit religiösen Inhalten der Fall zu sein, auch unter Christen und unter Muslimen. Seltsam dieses Beharren auf festgefahrene Positionen, wenn doch unsere Religionen die Notwendigkeit des Wandels betonen! Unser Ordensgründer Hz. Mevlana Celaleddin Rumi besang die Schönheit des Wandels:

 

Ich starb als Mineral und wurde zur Pflanze;
dann starb ich als Pflanze und wurde zum Tier.
Ich starb als Tier und wurde ein Mensch;
was sollte ich also fürchten? Wann hat mich der Tod geringer gemacht?
Beim  nächsten Mal sterbe ich als Mensch, um mit den Engeln zu fliegen.
Und selbst als Engel muss ich weichen,
denn
alle Dinge vergehen ausser Seinem Angesicht (Koran 28:88).
Und wieder werde ich geopfert und als Engel sterben;
ich werde etwas Unvorstellbares werden.
Dann werde ich zu Nichtsein;
das Nichtsein singt schön wie eine Orgel:
Siehe, zu Ihm kehren wir heim (Koran 2:156).

                                                         (Mesnevi III:3901 ff; siehe auch IV:3637 ff)

    

Als Basis für den interreligiösen Dialog dient oft die Ethik im Sinne des Handelns, das dem Gemeinwohl förderlich ist. Aber auch da treffen wir auf Schwierigkeiten. Gilt für mich als Muslim vorerst das Wohl der islamischen Gemeinde oder hat das Gemeinwohl des Landes den Vorrang? Wer ist für mich „der Nächste“, den ich ebenso lieben soll wie mich selbst? Ist es richtig, die Armensteuer (Zakat) nur muslimischen Armen zu gewähren, oder soll meine Armensteuer vorerst den Armen in jenem Lande oder jener Gemeinde dienen, wo ich wohne?

Ist es nicht so, dass die meisten Menschen darum ethisch handeln, weil der eigene Stand daraus den grössten Nutzen zieht? Beim Problem der knapp werdenden Energieressourcen und der Klimaerwärmung – um ein Beispiel zu nehmen – ist der eigentliche Beweggrund zu Gegenmassnahmen nicht etwa die Liebe zur Mutter Erde, sondern mehrheitlich die Angst vor der unsicheren Zukunft des eigenen Wohlstandes. Die wirkliche Fähigkeit zu ethischem Handeln zeigt sich erst in Situationen, wo’s direkt an die eigene Substanz geht, ohne mit einem persönlichen Nutzen rechnen zu können. Dann wird unsere Ernsthaftigkeit, etwas Grösserem dienen zu wollen, getestet. Als Sufi frage ich mich immer wieder: „Bin ich dazu fähig, zugunsten des Wohls der Gemeinschaft mein eigenes Wohlbefinden oder gar meine religiösen Vorstellungen, die meine Identität bestimmen, zu opfern, wenn die Situation dies erfordert?“

 

Rechtes Handeln bei den Sufi und im Speziellen bei den Mevlevi

In den unterschiedlichen Schulen der Sufi wird die Fähigkeit, etwas Grösserem zu dienen, gefördert und geschult. Dienen tut zwar jeder Mensch – und er tut dies ständig, denn das Dienen geschieht impulsiv als natürliche Folge des Drangs nach Orientierung und Identität – eine Notwendigkeit, wenn wir uns lebendig fühlen wollen. Die Frage bleibt trotzdem, wem wir dienen, und dies ist keine einfache Frage.

Sicher, es braucht nicht allzuviel, um zu erkennen, wenn unsere Triebhaftigkeit angeregt und unsere niedere Natur ernährt wird. Doch wie ist es mit den vielen auf den ersten Blick vorbildlichen Handlungen, die aber trotz allem unsere Ichhaftigkeit – also unsere Persönlichkeit – ernähren und stärken? In der Sprache der Sufi ist die Persönlichkeit die Formgebung der Seele, oder anders gesagt das Gesicht, das wir unserer Seele geben (Persona = Maske). Die Seele besteht aus der Summe aller Seelenstufen, die so genannten Nafs. Je nach Schule wird die Seele in 4 oder 7 Nafs unterteilt. Die 4-stufige Unterteilung kann wie folgt verstanden werden:

  • Die befehlende Seele (nafs al-ammare)
    – Lebens- und Arterhaltungstrieb, Habsucht, Automatismen des Unbewussten (Auge um Auge, Zahn um Zahn).
    – Die Folgen davon: Lebenskraft, Standhaftigkeit,
    aber auch Gier, Neid, Stolz, Geiz, Wetteifer, Sinneslust, Hass, Wut.
  • Die tadelnde Seele (nafs al-lawwame)
    – Verstandestätigkeit, Ringen um Sinnhaftigkeit und Identität, Sehnsucht nach höherem Bewusstsein.
    – Die Folgen davon: Selbstkritik, Frömmigkeit, Gesetzestreue, Enthaltsamkeit,
    aber auch Klägerei, Heuchelei, Grübelei, Ärger.

  • Die erleuchtete Seele (nafs al-molhama)
    – Befähigung zu Inspiration und Eingebung, waches Bewusstsein für die andere Welt (die nicht nur Gutes enthält!).
    – Die Folgen davon: Vernunft, Weisheit, Wissen, Güte, Gnade, Freigebigkeit,
    aber auch Arroganz, Drang zur Belehrung, Sendungsbewusstsein, Mission
  • Die beruhigte Seele (nafs al-motma’ene)
    – Innerer Frieden und Ruhe, Zustand der Gewissheit, Bewusstsein der kosmischen Ordnung, fortwährendes Gottesgedenken (Dhikr)
    – Die Folgen davon: Erkenntnis, Wissen, Zufriedenheit, Geduld, Gerechtigkeit, Armut (kein Besitzesanspruch = Derwisch), aber auch Selbstgenügsamkeit, Selbstzufriedenheit, Passivität, Faulheit, Genuss an der erreichten Stufe (Gemäss Annemarie Schimmel nennt dies Jâmî „das Vergnügen, das aus den Werken des Gehorsams abgeleitet ist“)

Bei jedem Menschen sind all diese Seelenstufen gleichzeitig aktiv, aber mit unterschiedlicher Betonung. Eine Erziehung ist auf allen Stufen nötig, der Weg zu Gott (Tarîqah) hat in dieser Welt kein Ende. Über das letztendliche Ziel des Handelns aus der absoluten Wahrheit (Haqîqah) kann nur spekuliert werden aufgrund einiger vorgelebter Beispiele, wie die der Propheten und heiligen Menschen. Diese haben durch ihre vollständige Hingabe an Gott (Fana fi Allah) eine spürbare Nähe zur absoluten Wahrheit erreicht. Für uns ist Hz. Mevlana das grosse Beispiel. Über die Nafs sagte er:

Die Nafs hat Gotteslob auf der Zunge und den Koran in der rechten Hand; (doch) in ihrem Ärmel steckt Dolch und Schwert. (Mesnevi III:2524)

 

Bei uns Mevlevi konzentriert sich die Erziehung auf das rechte Benehmen in Haltung und Form. Der Name hierfür ist Adab (türkisch Edeb). Adab ist der sichtbare Ausdruck des Respekts für Gott, Seine Schöpfung und Seine Geschöpfe. Beginnend beim Üben des „rechten Handelns“ erreichen wir schliesslich einen Zustand, wo Gott in uns Raum findet, um uns mit höherem Bewusstsein zu beschenken. Er tut dies in Seiner Eigenschaft des Gnädigen ar-Rahîm (die Gnade aufgrund unserer Taten und Zustände). Mein hier anwesender Bruder und Kollege Süleyman Bahn Efendi aus Nürnberg machte mich auf folgenden Ausspruch des Propheten (al-Hadith) aufmerksam, der den Prozess verdeutlicht:

Keiner von euch wird zuverlässig die Wahrheit erfahren, bevor nicht eure Herzen gerichtet sind;
noch werden eure Herzen gerichtet sein, bevor nicht eure Zungen wahr sprechen;
noch werden eure Zungen wahr sprechen, bevor nicht eure Taten richtig sind.

 

Der Prozess beginnt also beim rechten Handeln, das dann zum rechten Sprechen führt. Und erst darauf folgt die Ausrichtung des Herzens, was zur Erkenntnis der Wahrheit führt. Vor vielen Jahren erklärte mir dies ein Scheich mit folgenden Worten: „Peter, dein Herz ist offen und strahlt in alle Richtungen. Es wird nun Zeit für dich, einen Teil des Herzens zu schliessen, dass es zum Leuchtturm wird. Tue, was Allah gebietet und meide, was Er verbietet, dann wird dein Herz gerichtet sein.

Die klassische Erziehung in den Mevlevi-Klöstern bestand aus 18 Diensten innerhalb von 1001 Tagen. Während dieser Zeit war die Meinung des Lernenden nicht gefragt und nicht gewünscht. Er soll aus Tatbeständen – also aus dem Hier und Jetzt heraus – zu denken und sprechen lernen, und nicht aus Konzepten und Meinungen. Wir leben aber jetzt in einer Zeit der totalen Kommunikation und ohne Klöster, und da muss die Erziehung anders gestaltet werden. Nach wie vor beginnt die Schulung im rechten Handeln, aber wir müssen den ganzen Prozess von Anbeginn sichtbar machen und erklären, sonst werden wir kein Verständnis antreffen. Ein wesentliches Instrument der religiösen Erziehung, dessen Wert nicht genug betont werden kann, ist das Ritual.

Das Ritual ist ein starkes und vielleicht das stärkste Instrument, das dem Menschen zu seiner religiösen Schulung zur Verfügung steht. Es bindet Raum und Zeit in ein vorgeschriebenes Muster mit der entsprechenden Wirkung auf den teilnehmenden Menschen. In jeder Religion und spirituellen Ausrichtung wird die Kraft durch Rituale mobilisiert. Dabei denke ich nicht nur an grosse Rituale wie dem Sema, sondern gleichfalls an kleine ritualisierte Handlungen des Alltags, wie dem Gebet vor oder nach der Mahlzeit. Nebst dem Raum und der Zeit werden dabei auch feinstoffliche Energien gerichtet und die Tore zur anderen Welt geöffnet. Das richtige Ritual schützt den Menschen vor feindlichen Kräften aus der anderen Welt und lässt die gut gesinnten zu, etwa so wie bei einem Radio, der je nach Einstellung mit dem einen oder anderen Sender in Schwingung gerät. Es ist nicht von ungefähr, dass Kinder Rituale lieben und sich in Alltagsritualen geborgen fühlen. Und es ist auch nicht von ungefähr, dass die Magie und schamanische Praktiken ihre Wirkung durch Rituale erreichen.

Adab ist eine Geisteshaltung, verbunden mit einem vorgeschriebenen ritualisierten Handeln in Taten und Worten. Einige ausgewählte Regeln des Mevlevi-Ordens mögen das veranschaulichen:

    • Ich bin mir ständig gewahr, dass Gott mich sieht. Somit versuche ich, mich in jedem Augenblick so zu verhalten, als ob ich vor Gott stände. Ich versuche, alles auf die mir best mögliche Art zu machen – in Schönheit und Perfektion. (Ihsân; kommt von hasan = schön, fein).
    • Im Respekt für Gott übe ich mich im Respekt für Seine Schöpfung und Seine Geschöpfe. Ich unterstütze den Schutz der Natur und der Tiere und lebe ein Leben, das für die Umwelt verträglich ist. Ich respektiere jeden Menschen als von Gott gewünschtes Geschöpf, ungeachtet seiner Herkunft, Religion, Rasse und Geschlecht.
    • Es gelten für mich die bekannten islamischen Gebote, und ich folge speziell den Anweisungen meines Scheichs und meiner Lehrer. Zu den Geboten gehören auch die Sauberhaltung des Körpers sowie das Bemühen, die Gedanken und Gefühle zu reinigen.
    • Jeder Mensch hat sein Geheimnis mit Gott, das nur Gott zugänglich ist. Somit bin ich nie dazu befähigt, den wirklichen Wert eines anderen Menschen zu bemessen. Ich versuche, aus jedem Menschen das erkennbar Gute herauszulesen und das vermeintlich Schlechte nicht hervorzuheben. Ich vermeide jeglichen Klatsch und lasse mich auf Gerüchte nicht ein.
    • Ich vermeide es, anderen Menschen den Rücken zu kehren, insbesondere meinem Scheich und meinen Lehrern. Vor ihnen sitze ich in respektvoller Haltung, nie mit übergeschlagenen Beinen und nie mit den Füssen gegen sie gestreckt. Stehend vor meinem Scheich setze ich meine rechte Hand auf mein Herz, und die rechte grosse Zehe überdeckt die linke grosse Zehe (in Erinnerung an Mevlanas Koch Ateschbasi Veli). Wenn der Scheich oder ein Lehrer den Raum betritt, stehe ich auf und setze mich erst, nachdem er sich gesetzt hat.
    • Im Gespräch mit dem Scheich oder meinen Lehrern bin ich immer der Zuhörende, ausser ich werde zum Sprechen aufgefordert.
    • Ich konzentriere mich im Dialog auf Ich-Botschaften („Gewaltfreie Kommunikation“). Ich gebe niemandem Ratschläge oder Belehrungen, ausser es wird mir dafür die Erlaubnis gegeben, sei es durch meine Funktion oder weil ich darum gebeten wurde.
    • Bevor ich jemandem einen Gegenstand reiche, küsse ich diesen mit dem Gedanken, dass dies für die empfangende Person zum Guten sei. Desgleichen küsse ich einen Gegenstand, der mir gegeben wird, mit dem Gefühl der Dankbarkeit.
    • Wenn ich einen Raum verlasse und in einen anderen Raum eintrete, überschreite ich die Schwelle der Türe ohne auf sie zu stehen. Dabei lasse ich an Gedanken und Gefühlen alles hinter mir, was nicht in den neuen Raum gehört.

Beim rechten Benehmen gemäss den Regeln des Adab geht es nicht um das Erlernen einer natürlichen Haltung gemäss der existierenden Natur des Menschen, so wie etwa in Kursen zur Persönlichkeitsentwicklung, wo der natürliche Auftritt zwecks erhöhter Überzeugungskraft geübt wird. Nein, Adab wird erst mit geistiger Reife zum natürlichen Akt, so wie der Schreinermeister den Hobel ganz natürlich richtig gebraucht, während der Lehrling dafür noch Konzentration und Anstrengung benötigt. Erst mit geistiger Reife gilt der folgende berühmte Ausspruch von Bâyezîd Bistâmi (gest. 874): Sei so, wie du dich gibst; oder gebe dich so, wie du bist! Adab zielt weder auf Persönlichkeitsentwicklung noch auf  Selbstverwirklichung, die beide nur das Ego verstärken statt umgekehrt, es zu schmälern. Adab zielt darauf, Gott zu preisen und Ihm zu dienen, steht doch im Koran: Drum gedenkt Mein, dass Ich eurer gedenke ….. (2:152); Allah sprach zum Menschen: „Bin ich nicht euer Herr?“ und sie sprachen: „Jawohl, wir bezeugen es!“ (7:172).

 

Auswirkungen von Adab in der Gesellschaft

In der Praxis heisst Adab, Gott in Seinen Geschöpfen zu sehen und Ihm durch Interaktion mit den Geschöpfen zu dienen. Und auf die Gesellschaft bezogen heisst das, jeden Menschen als gottgewollt zu sehen, in ihm den Ausdruck Gottes zu erkennen und dem entsprechend in Aktion zu treten. Dies schliesst eine bestimmte bis heftige Reaktion auf erfahrene Aggressionen nicht aus.

Alle Muslime bitten mit der Fatiha in jedem Gebet darum, auf „den rechten Pfad“ geleitet zu werden. Dies im Wissen, dass das menschliche Schicksal letztendlich durch Gott bestimmt wird, so wie es auch im christlichen Vaterunser zum Ausdruck kommt. Doch die Praxis richtet sich immer nach dem Gottesbild. Sowohl konservativ denkende als auch liberale Sufis lernen das Dienen. Die wesentliche Frage ist: „Wem diene ich?“ Diene ich einem angelernten Gottesbild und wenn so, welchem? Diene ich einer angelernten Gewohnheit oder gar meinen Gefühlen und meinem Wohlbefinden?

Aus Sicht der Sufis ist „der rechte Pfad“ ein persönliches und ganz intimes inneres Annähern an Gott, unabhängig von theologischen Schranken und gesellschaftlichen Zwängen, und damit letztendlich auch unabhängig von eigenen dogmatischen Vorstellungen. Ob jemand die direkte Demokratie der Schweiz liebt, oder die Scharia des Mehrheitsislams annimmt und damit de facto die Demokratie ablehnt: der Gang zur Gottesnähe per se wird davon nicht betroffen sein. Die Mystik ist kein Rezept für gesellschaftliche Problemlösungen!

Die Meinung, wie eine Gesellschaft funktionieren soll, ist in der heutigen Zeit auch für Sufis eine grosse Herausforderung und aus der Sufi-Tradition nicht einfach abzuleiten. Auch unter Sufis gehen die Meinungen über das rechte Leben im Westen auseinander, je nach Erziehung und Bildung. Das Hauptproblem liegt darin, dass von traditionellen Muslimen der Sunna und der Scharia ein göttlicher Charakter zugeschrieben wird, obwohl diese Textessammlungen auf menschlichem Erinnerungs- und Abstraktionsvermögen sowie menschlichen Entscheidungen beruhen. Im Glauben an ihre Unfehlbarkeit kann an diesen Menschenwerken nichts ausgeklammert oder relativiert werden, auch wenn darin einige wesentliche Belange mit Werten der westlichen Gesellschaft nicht zu vereinbaren sind. Mit dieser weit verbreiteten Sicht kann die Universalität des Islam nur noch damit verteidigt werden, dass sich alle Andersgläubigen auf dem Holzweg befinden.

Auch wenn die meisten Muslime im Westen nicht streng gläubig sind und die westlichen Werte zu schätzen wissen, werden diese in sensiblen Fragen, wie der Beziehung zu anderen Religionen, anderen Wertsetzungen oder zum anderen Geschlecht mit dem Einfluss der Familienbande auf traditionelle Werte zurückgreifen, die ja Teil ihrer kulturellen Wurzeln sind. Nach wie vor haben Imame und Vorsteher islamischer Vereine, aber auch Scheichs in den Sufi-Orden, einen starken Einfluss aufs Gottesbild ihrer Glaubensgemeinden. Die Verständigung zwischen dem Islam und dem Westen wird immer vom Gottesbild dieser Personen abhängen.

Sicher, im normalen Alltag finden selbst traditionelle Muslime ihren Weg, sich mit ihrem Glauben in angemessener Form im Westen zu bewegen. In der Not berufen sie sich darauf, in einem fremden Land und damit im Ausnahmezustand zu sein, womit Ausnahmen tolerierbar werden. Doch auf die Dauer ist eine solche Integration untragbar und Unruhe stiftend. Die Assimilation oder „das Ankommen“, wie es einige westliche Politiker ausdrücken, erfordert die Bereitschaft der Imame, die islamische Offenbarung mutiger auszulegen.

Kenntnisse über Leben und Werk von Sufis kann das zeitgemässe Auslegen der Offenbarung unterstützen. Sufis unserer Zeit sollten sich darin auszeichnen, dass sie sich direkt an der göttlichen Offenbarung definieren und die theologischen Errungenschaften zu relativieren wagen. Ihre Fähigkeit zum Verzicht auf persönliche Ansprüche hilft ihnen dabei, eine objektive Haltung einzunehmen.

Mit einem Vers unseres Ordensgründers will ich abschliessen und an die Vernunft appellieren:

 

Dann mache es dir zur Gewohnheit – auch wenn du einen dunklen Körper wie Eisen hast – zu polieren,
zu polieren, zu polieren;
Damit dein Herz ein Spiegel voller Bilder wird und dir aus jeder Richtung reizende weisse Schönheit zeigt.
Auch wenn das Eisen dunkel war und kein Licht besass, hat es durch Polieren doch die Dunkelheit verloren.
Das Eisen hat das Polieren ertragen, und seine Oberfläche wurde davon schön, und man kann Bilder darauf sehen.
Weil der Körper grob und dunkel ist, poliere ihn – denn er ist für das Poliermittel empfänglich;
Damit die Formen des Unsichtbaren in ihm erscheinen und der Widerschein von Hûrî und Engel auf ihn treffen.
Gott hat dir Poliermittel gegeben, die Vernunft, um die Oberfläche des Herzens glänzend machen zu können. ….. 

                                                                                          (Mesnevi IV: 2469 ff)