Gedanken zu Dhikr – eine Praxis im Islam (September 2003)

Peter Hüseyin Cunz, September 2003

Ich war ein verborgener Schatz und sehnte Mich danach, erkannt zu werden. Also schuf Ich die Welt, auf dass Ich erkannt würde.
(Hadith qutsi, Ausserkoranisches Gotteswort)

Gott sehnte sich danach, erkannt zu werden um so Sich Selbst zu erkennen, darum hat Er aus Sich Selbst heraus diese „Welt“ erschaffen. Um dies zu ermöglichen, benötigte Er einen würdigen Gegenspieler der die Funktion des Metalls auf der Rückseite der durchsichtigen Glasscheibe auf sich nimmt, damit ein Spiegel entsteht, in dem Gott sich erkennen kann. Als Gegenspieler hat Er den gewählt, der Ihm am nächsten stand: den Erzengel Azazil (oder Luzifer, der Lichtbringer, der Träger des Lichts). Dieser – in seiner unendlichen Gottestreue – hatte sich geweigert, sich vor dem ersten Menschen Adam niederzuwerfen, und so „qualifizierte“ er sich für die schwierigste und schmerzlichste Funktion der Schöpfung: Satan (Iblis), der Versucher, der Einflüsterer, der Verführer, der Provokateur, der vom Weg abbringende.

Satans nun verdeckte Liebe zu Gott drückt sich in seiner unendlichen Eifersucht aus. Er dient Gott, indem er die Seelen der Menschen testet. Die Seele (nafs) ist der Sitz unserer personengebundenen Eigenschaften, also auch der niederen Natur des Menschen, seiner Triebe und Seelenqualitäten, seiner Anima.

Der Ort des Spiegels, in dem sich Gott erkennen will, ist das Herz (qalb) des Menschen, das so erschaffen wurde, dass es zur Widerspiegelung Seines Willens befähigt ist. Adam, der ursprüngliche paradiesische Mensch, widerspiegelte sämtliche Attribute Gottes in ihrer reinsten und schönsten Form. Gott musste seinen Willen nicht durchsetzen. Doch dann begann Satan zu wirken. Er verformte den Spiegel derart, dass sich die Widerspiegelung von Gottes Attributen verzerrten. Damit kam es zur Verbannung Adams und seiner Nachfolger aus dem Paradies; das „Welttheater“ fand seinen Beginn.

Es wird gesagt, dass der einzige Ort, wo Gott für sich genügend Platz in der erschaffenen Welt findet, das Herz des Menschen sei.

Gott hat uns Wegweiser gesetzt – in Form von Gesetzen und Vorschriften – die uns helfen sollen, in unserer Machtlosigkeit weiter zu finden. Er hat Propheten und Heilige gesandt sowie sogenannte Vollkommene Menschen (Al-Insân al Kâmil, Qutb), aus deren Zeugnis die Heiligen Schriften und lehrreiche Legenden entstanden.

Wir sind beauftragt, die gegebenen Gesetze und Vorschriften einzuhalten, um so unseren Eigenwillen einzuengen und ihm eine allgemeine Richtung zu geben, der den Zweck der Schöpfung erfüllt. In unserem Bemühen treffen wir dabei auf Mitmenschen, von denen wir spüren, dass sie die gegebenen Vorschriften und Gesetze kennen, einhalten und den wahren Sinn verstehen. Solche Menschen mögen dann unsere Lehrer werden. Der einzige Zweck religiöser Schulung ist die Unterstützung im Erkennen, Verstehen und Einhalten der bestehenden göttlichen Vorschriften und Gesetze, sowie im Üben weiterführender Exerzitien für jene, die dies vermögen. Dabei geht es darum, die drei Haupttugenden zu erlangen, welche der Charakteristik des letzten Propheten entsprechen: Demut, Wohltätigkeit und Aufrichtigkeit.

Eine der Vorschriften ist das Gebet, und als dazugehörendes weiterführendes Exerzitium wird das Gotteserinnern (dhikr) geübt. Dhikr ist ein arabisches Wort und bedeutet zugleich „Erwähnung“, „Gedenken“, „Anrufung“ und „Erinnerung“. Jede wiederholte innerliche oder hörbare Rezitation einer religiösen Formel oder eines heiligen Wortes wird im Islam mit dem Ausdruck Dhikr bezeichnet. Es wird gesagt, dass Mohammed seinem Schwiegervater Abu Bakr das stille Gedenken lehrte und seinem Schwiegersohn Ali das laute. Die meisten Sufi-Orden stammen von Ali ab.

Das Werkzeug oder Instrument für Dhikr ist der Mensch, die Hülle des Herzens, also wir selbst. In uns ist das ganze Wissen eingepflanzt, doch kann der Same nicht spriessen, solange der Boden durch den Frost des Vergessens hartgefroren ist. Dhikr soll dem Menschen helfen, aus seinem Zustand des Vergessens zu kommen und sich seiner Wesensmitte zuzuwenden. Damit ist Dhikr mit der Praxis des christlichen Rosenkranzgebets und speziell mit dem Herzensgebet der Hesychasten (ostchristliche Mystiker) verwandt.

Im Koran steht das Gebot, Drum gedenket Mein, dass Ich eurer gedenke (Sure 2:152). Und ein prophetischer Ausspruch sagt: Es gibt immer ein Mittel, den Rost zu entfernen; das Herz wird durch den Dhikr poliert. Mit anderen Worten: Der Spiegel, von dem wir oben sprachen, wird im Gottesgedenken poliert, sodass die Attribute und der Wille Gottes sich unverschleiert widerspiegeln können. Und dann lesen wir im Koran: Sollten auch nicht im Gedenken (dhikr) an Allah die Herzen im Frieden sein? (Sure 13:28).

Wenn wir vom Herzen sprechen, dann ist damit der zentrale Wesenskern im Menschen gemeint, von dem aus die Zuwendung zu Gott möglich ist. Es ist der Punkt, wo das Jenseits so quasi durch das Nadelöhr des Hier und Jetzt mit der Relativen Welt (oder der Welt der Erscheinungen) verbunden ist. Es ist der Punkt, wo die Vergangenheit und die Zukunft im gegenwärtigen Augenblick zusammenfliessen, wo Raum und Zeit keine Grenzen kennen. Es ist dort, wo Gott sagt, Wir sind ihm (dem Menschen) näher als die Halsader (Sure 50:16), und es ist dort, wo wir erkennen, Wohin ihr euch daher wendet, dort ist Allahs Angesicht (Sure 2:115).

Im Dhikr verwenden wir die sogenannten Schönsten (oder Heiligen) Namen Gottes sowie diverse koranische Aussprüche. Diese 99 Namen Gottes (Asmâ’ul-Husnâ) sind im Koran erwähnt und drücken die Attribute oder Eigenschaften Gottes aus, durch die Er in der Relativen Welt erkannt werden kann. Man spricht zwar von 144’000 Namen Gottes, die Adam gelehrt wurden, doch es sind die bekannten im Koran erwähnten 99 Namen, die zur Betrachtung empfohlen werden.

Denkt nicht über das Wesen Gottes nach, denkt über Seine Attribute nach.
(Hz. Mevlana Cellaleddin Rumi, Mesnevi 4:3700 ff).

In den Heiligen Namen Gottes sind die Pflichten ausgedrückt, welche Gott gegenüber Seiner Schöpfung hat. Sie stehen im Gegensatz zu den Eigenschaften Satans, dem Trennenden, dem Eifersüchtigen, dem Versuchenden, etc. Die Heiligen Namen sind die verschiedenen Formen Seiner allgegenwärtigen über alles stehenden Gnade Ar-Rahman, durch die Er in den Menschen wirkt, damit sie zum Ursprung zurückfinden. Jeder Dhikr, der in der Vergangenheit während Jahrhunderten zelebriert wurde, hat die Wirkung dieser Heiligen Namen in der relativen Welt weiter geprägt. Es ist etwa so wie ein Teig, der besser wird, um so länger er geknetet wird. Darauf ist es auch zurückzuführen, dass diese Heiligen Namen im richtigen Kontext eine starke Wirkung zeigen.

Es wird oft gesagt, dass die arabisch ausgesprochenen Heiligen Namen so klingen, dass sie allein durch den Klang eine Wirkung auf die Konstitution des Menschen haben, so etwa wie die Mantras östlicher Techniken. Diese Wirkung existiert tatsächlich, aber sie ist nicht wesentlich. Auch perfekt ausgesprochene Heilige Namen des Koran wären nur Worte, wenn sie nicht Träger einer Botschaft wären. Sie geben Zeugnis ab von der prophetischen Offenbarung und zugleich von den Millionen Herzen und Zungen, die in Andacht und Ehrfurcht diese Namen ausgesprochen haben, im Dank für die Eigenschaften, in denen sich Gott uns zeigt. Es ist dieses Zeugnis, das, von den Heiligen Namen getragen, im Dhikr eine Wirkung hat im Herzen des ehrlich Übenden, der damit selbst wiederum Zeugnis ablegt. Einer der Heiligen Namen ist Ash-Shahid, der Zeuge.

Der Weg der Wahrheit ist gepflastert von den Opfern derjenigen, die vorher auf diesem Weg gingen (Spruch aus der Sufi-Tradition). In unserem Zeugnis für Gottes Botschaft opfern wir uns selbst als weitere Pflastersteine auf dem Weg der Wahrheit. Und so werden wir im Dhikr zu einer Unterstützung für unsere Mitmenschen. Wo immer ein Mensch einen Heiligen Namen aufrichtig ausspricht, wendet sich jemand in dieser Welt Gott zu, wird gesagt – eine Aussage, die sogar modernen Wissenschaftlern nicht mehr fremd tönt. Es hat sich diesbezüglich der Ausdruck Schmetterling-Effekt eingebürgert, in der Vorstellung, dass ein Schmetterling, der in Rio de Janeiro herumflattert, ein Unwetter in Chicago auslösen kann.

Und da stelle ich die praktische Frage: Was in mir erinnert sich? Welche Schicht in mir ist berührt und wovon ist sie berührt? Sind es wirklich immer die subtilen essentiellen Ebenen, die beim Dhikr in mir in Bewegung geraten? Ist im Dhikr mein Wesenskern zum Schwingen gebracht, oder sind es einfach die Gefühle, welche in Stimmung geraten? Hat mein Erinnern wirklich mit meinem essentiellen Ursprung zu tun, mit der letzten Realität der Einheit allen Seins, wo der Erkennende, der Erkannte und die Erkenntnis eins sind?

Beim Üben des Dhikr sind solche Fragen wichtig, damit Sentimentalitäten nicht leichtfertig mit geistigen Entwicklungsschritten verwechselt und irgendwelche Visionen oder vernommene Stimmen nicht als Zeichen höchster Quelle gewertet werden. Dhikr ist Teil dessen, was wir als Gebot erhalten haben, ungeachtet der geistigen Stufe, auf der wir stehen oder zu stehen glauben:

Nur derjenige, der ans Ende des harten Pfades gelangt ist, steht jenseits der offenbarten Formen, die er aber doch, um des guten Beispiels willen, nicht vernachlässigen wird. Aber die Ordnung der Welt – traumflüchtig wie sie vom Standpunkt einer höheren Wahrheit aus sein möge – muss aufrechterhalten werden, und die Erfüllung der Gebote, wie sie im Koran und in der Tradition festgelegt sind, gehört dazu. Denn ohne Hülle kann kein Aprikosenkern in der Erde wachsen, ohne die äusseren Formen von Stehen, Knien und Beugen kann der innere Gehalt des Glaubens nicht deutlich werden, und es bedarf der Worte, um die flüchtigen, unkontrollierbaren Gedanken festzuhalten und zur Wirkung zu bringen. Die Formen sind freilich wie Kleider, unter denen der Einsichtige den wahren Menschen erkennt
(Rumi im Fiji ma fihi).

Als Rahmen für den Dhikr sollten wir vorerst die richtige Form kennen. Praktisch heisst das, dass wir in uns Ordnung schaffen, damit die verschiedenen Wirkungsfelder in uns nur am gewünschten Ort wirken. Wir wollen nicht einen Verstand, der von Gefühlen diktiert wird, und wir wollen auch nicht, dass die Gefühle vom Verstand unterdrückt werden. Um aber innerlich Ordnung zu erlangen, müssen wir aussen beginnen. Das heisst, dass wir in Raum und Zeit Ordnung halten. Dazu gehören:

  •   Die Sauberkeit unseres Körpers und der Räume, in denen wir uns bewegen,
  •   Eine ordentliche Verhaltensweise, Manieren und Respekt für fremde Räume,
  •   Das Einhalten von Abmachungen, Verpflichtungen, Treue in den Beziehungen, Ethik und Moral,
  •   Sowie die Regelmässigkeit im Beten und Durchführen von spirituellen Uebungen.

Beschreiben die 99 Namen alle mögliche Eigenschaften dieser Welt?

Nein, es gibt Eigenschaften, die in den 99 Namen nicht enthalten sind, wie z.B. der Trennende, der Eifersüchtige, der Versuchende. Dies sind Eigenschaften Satans. Die 99 Namen beschreiben jenen Teil des allmächtigen und allumfassenden Gottes (Allah), dem wir uns zuwenden sollen. Dieser Teil Gottes wird oft mit Unser Herr (al-Rabb) bezeichnet. Er steht im Gegensatz zu Satan.

Es gibt aber durchaus einige der 99 Namen, die uns Unangenehmes bescheren, auch wenn sie nicht von Satan stammen, wie z.B. der Demütigende (al-Mudhill) ,der Erzeuger der Not (ad-Darr), der den Tod Bringende (al-Mumit) oder der Rächer (al-Muntaqim). Diese Eigenschaften unterstehen Seiner allumfassenden Barmherzigkeit (ar-Rahmân). Aus Barmherzigkeit macht uns Gott z.B. krank, damit wir daraus etwas lernen; aus „begründeter“ Barmherzigkeit (ar-Rahîm) macht Er uns wieder gesund.

In jedem der Schönsten Namen sind alle anderen enthalten. Im Moment wo wir einen bestimmten Namen betrachten, kreisen alle anderen um ihn herum. Mathematisch gesehen gibt das eine beinahe unendliche Anzahl von Möglichkeiten von Gottes Erscheinungen. Das Wissen, das hinter diesen Namen steht, ist derart gross, dass wir es nie zu Ende schreiben könnten, auch wenn wir alles Wasser dieser Erde in Form von Tinte zur Verfügung hätten (Koran).

Zu den Pflichten gehören sowohl das Gebet als auch der Dhikr. Was ist der Unterschied zwischen Gebet und Dhikr?

Im Gebet hat der Mensch die Gelegenheit, sich Gott zuzuwenden, und im Dhikr konditioniert sich der Mensch so, dass Gott sich ihm zuwenden kann. Erinnere dich Meiner, und ich werde Mich deiner erinnern (Koran). In einem gewissen Sinne tun wir im Dhikr nichts anderes als jenen Raum schaffen, in dem ein Teil Gottes Platz finden kann. Dhikr ist kein Ersatz für das Gebet. Das Gebet ist eine äussere Pflicht und Dhikr eine innere. Im Dhikr geht es nicht um mystische Erlebnisse oder gar um Ekstase, sondern um das stärken des Zustandes der Gewissheit (absoluter Glaube, Iman).

Im weiteren wird beim Üben des Dhikr die Konditionierung durch die Glaubensgemeinschaft (Umma) gefördert. Die Pflicht zur Glaubensgemeinschaft ist in den meisten Religionen verankert. Sie soll als Stütze und Schutz dienen, damit der einzelne Gläubige vollständig von sich loslassen kann, ohne dabei vom Pfad abzugleiten. Die Glaubensgemeinschaft umfasst das konkrete Zusammenkommen (Treffen), die Gemeinschaft im Gemüt (emotional, gemütlich), die Gemeinschaft im Studium (mental) und die religiöse Gemeinschaft (Glaubenspraxis).

Die Wissenschaft lernt man durch die Worte; die Kunst durch die Praxis; die Loslösung durch die Gemeinschaft.
(Hz. Mevlana Cellaleddin Rumi).