Die Praxis bei den Sufi (November 2016)

Kongress im Kloster Kirchberg bei Horb am Neckar, 18.-20. November 2016

(Peter Hüseyin Cunz)

 

Gemäss dem Prospekt will dieser Kongress Gegensätze beleuchten, wie Spiritualität vs. Religion, Mystik vs. Dogmatik oder fruchtbare Praxis vs. Wellness und Selbstbespiegelung. Dazu soll ich einen Beitrag aus dem Sufismus bieten. Ich werde somit die vorhandene Zeit nicht damit verwenden, Ihnen einen Überblick über den Sufismus zu geben, sondern gleich in Belange der Praxis eintauchen. Damit hoffe ich, dass Sie Impulse für Ihren eigenen spirituellen Weg mit nach Hause nehmen werden.

Sufis sind Muslime, denn Sufis werden als die Mystiker des Islams gesehen. Doch einen Sufi zu erkennen ist für den Laien nicht so einfach, denn dieser kann auffallend orthodox oder unauffällig angepasst erscheinen, er kann intellektuell oder bodenständig sein, er kann mit einem gewinnenden  Charisma auftreten oder  einen weggerückten Eindruck machen. Allen gemeinsam ist eigentlich nur dies: Es sind Menschen, die im Kontext des Islams sich nach Gottesnähe sehnen. Die tradierten Gebote und Verbote sind für sie eine Selbstverständlichkeit, doch diese genügen ihnen nicht. Die Sehnsucht nach Gotteserkenntnis treibt sie dazu an, sich weiteren Übungen zu unterziehen, und diese können je nach Schule unterschiedlich sein.

Gemäss der monotheistischen Vorstellung  besteht die Schöpfung aus zwei Welten, dem Diesseits und dem Jenseits, die sich gegenseitig bedingen und sich gegenseitig Sinn verleihen. Beide sind gleichwertig, und beide beinhalten das Gute und das Böse. Nun, wenn wir von Gottesnähe sprechen, nach der sich die Sufis sehnen, dann bedingt das die Berührung mit der anderen Welt, dem Jenseits. Erst durch die Verbindung mit diesem Hintergründigen kann der Mensch ganz und vollkommen werden. Durch eine solche Verbindung ist der Mensch noch nicht Gott-gleich; Gott (Allah) selbst ist grösser als die zwei Welten. Im islamischen Grundgebet, der Fatiha, das mit dem christlichen Vaterunser vergleichbar ist, wird „Gott der Herr der Welten“ (Allah Rabb il alamin) angerufen. Er hält Seine Schöpfung wie eine Münze in Seiner Hand, mit dem Diesseits und Jenseits als je eine Seite der Münze.

Die Berührung mit dem Jenseits ist immer eine subjektive Erfahrung, die nur annähernd in Bildern oder Sprachformen erfasst und ausgedrückt werden kann. Da die Kräfte aus der anderen Welt gezwungenermassen die Form des empfangenden Mediums annehmen müssen, gibt es auch kein überprüfbares Standard-Erlebnis. Bei den einen geschieht dies überwältigend und lebensverändernd, bei den anderen in feinen ruhigen Schritten. Die Berührung mit der anderen Welt ist immer auch ein Geschenk, das nicht eingefordert werden kann. Als Gast hier in Deutschland zitiere ich nun gerne den Görlitzer Schuster und Mystiker Jakob Böhme (1575-1624), den Sie sicher kennen:

Darum will ich den Leser treulich gewarnet haben als wie mit einer Vorrede über dies grosse Geheimnis, ob er dies Ding nicht verstände und doch gern verstehen wollte, dass er wollte Gott um Seinen Heiligen Geist bitten, dass Er ihn wolle mit demselben erleuchten. Ohne Erleuchtung desselben wirst du dieses Geheimnis nicht verstehen; denn es ist in des Menschen Geist ein fest Schloss davor, das muss vorher aufgeschlossen werden, und das kann kein Mensch tun, denn der Heilige Geist ist allein der Schlüssel dazu. (Morgenröte im Aufgang 13:26)

Und doch: Aus Sicht der Sufis ist es wichtig, dass bei Erlebnissen mit dem Jenseits die uns gegebene Ratio beigezogen wird, vorerst uns selbst zuliebe, damit wir im Prozess der Annäherung an Gott uns zurechtfinden und nicht auf Abwege und in Abgründe gelangen. Denn was immer wir in der Begegnung mit der anderen Welt antreffen, wird uns überwältigen, ohne dass wir die Kraft hätten, die Spreu vom Weizen zu trennen.

Es geht also nicht nur darum, dass die Fenster zur anderen Welt geöffnet werden, sondern gleichfalls darum, in diesem Ringen geschützt zu sein, geschützt vor unseren eigenen Fantasien, aber auch vor unfreundlichen Kräften. Beides, das Öffnen der Fenster zum Jenseits und der Schutz werden im religiösen Kontext mit Ritualen erreicht. Der Ritus bewirkt einerseits, dass wir den Schritt weg von der Ratio in den unendlichen Bereich des Nicht-Begreifens bewältigen. Andererseits ist der Ritus ein Schutz für das sich-gehen-lassende Individuum. Der Ritus innerhalb einer Gemeinschaft schützt die Gottsuchenden vor negativen Geisteskräften aus der anderen Welt, die sich selbst verwirklichen wollen und daher bestrebt sind, in die Seele eines Menschen einzudringen.

Denn das Jenseits, von wo die Kräfte in diese Welt der Erscheinungen dringen wollen, ist nicht nur gut. In ihrer reinen Form besteht sie aus form- und zeitloser Energie, die nach Verwirklichung in Raum und Zeit drängt. Im Graubereich zwischen dem Jenseits und dem Diesseits beginnen diese Energien Form anzunehmen. Nebst den engelhaften Energien hausen da auch Teufel und Kobolde. Diese suchen in Konkurrenz zu den engelhaften Kräften ebenso nach offenen und ungeschützten Seelen, wo sie sich einnisten können. Wer mit Spiritismus, Magie und ähnlichen okkulten Wissenschaften in Berührung kam, weiss, in welche Gefahren ein Beteiligter oder eine Beteiligte sich begeben kann.

Was passiert, wenn mehrere Gleichgesinnte gemeinsam beten, singen, Exerzitien üben, meditieren oder auch gemeinsam sich in heilige Bücher vertiefen? In jedem Fall entsteht ein Kontext, ein Muster des Miteinanders, in der die Sehnsucht des Einzelnen verstärkt zum Ausdruck kommt.  Oder in anderen Worten: innerhalb des Rahmens, in dem der Ritus praktiziert wird, entsteht eine Art Vakuum, das die Kräfte aus der anderen Welt anzieht. Besucher des Rituals spüren das sofort. Es ist, als ob die Luft sich ändern würde, als ob der Raum sich mit Licht füllen würde. Es bleibt eine tiefe Erinnerung an Momente, wo die zwei Welten sich eng berührten.

Nun ganz konkret: was kann über das Bemühen, über die Arbeit der Sufi erzählt werden? Ich versuche, dies mit fünf Übungsfeldern zu erläutern:

 

  1. Das gute Benehmen in der Gesellschaft (adab);
  2. Die fünf Säulen des Islams, nämlich das Glaubensbekenntnis, das Ritualgebet, die Unterstützung der Bedürftigen, das Fasten und die Pilgerfahrt;
  3. Die rituelle Erinnerung an Gott (dhikr)
  4. Die Stärkung des Wissens (‚ilm)
  5. Das Drehritual (sema)

(1) Das gute Benehmen (adab) ist in allen Sufi-Orden eine selbstverständliche Grundvoraussetzung, damit die anderen Exerzitien geübt werden können. Es geht um unser Verhalten hier in der uns vertrauten materiellen Welt. Als „Hüter von Gottes Schöpfung“ – so werden wir im Koran genannt, sollen wir gottgefällig leben. Wir sollen versuchen, im Alltag unser Umfeld nicht egozentrisch zu betrachten. Wir sollen jede Gelegenheit nutzen, uns als Teil von etwas Grösserem zu sehen und das Selbstbewusstsein vom überbordenden Drang nach Selbstverwirklichung in Schranken zu halten.

In der Vorstellung der Sufis besteht die menschliche Seele (nafs) aus Schichten unterschiedlicher Feinheiten, welche den Raum zwischen dem inneren göttlichen Kern des Menschen und dem Körper mit der Aussenwelt ausfüllt. Diese Schichten sind durchlässig zu machen, damit der Geist Gottes, der im Kern des Menschen vorhanden ist, den Weg durch die Seelen-Schichten findet und sich möglichst unverfälscht im Diesseits verwirklichen kann. Dies ist gemeint, wenn in Sufi-Kreisen vom Reinigen der Seele, vom Polieren des Herzens-Spiegels oder vom Zerreissen der Schleier gesprochen wird. Bei allen Exerzitien geht es eigentlich nur um diesen Prozess.

Dieses alltägliche respektvolle Benehmen seinem eigenen Dasein sowie anderen Menschen und der Schöpfung gegenüber reinigt vor allem den grobstofflichen Teil der Seele. Es sind jene Schichten der Seelensubstanz, in denen die Art- und Selbsterhaltungstriebe wirken, und wo die Emotionen und Gedanken ihre Form erhalten. Dabei geht es nicht ums Unterdrücken oder Abtöten der natürlichen Triebe, sondern ums richtige Mass beim Befriedigen der Bedürfnisse. Es geht um Zufriedenheit mit wenig. Festgelegte Verhaltensregeln innerhalb eines Sufi-Ordens unterstützen das Üben des guten Benehmens.

Sicher: fürs Üben des respektvollen Umgangs mit anderen Menschen und der Umwelt braucht man nicht gläubig zu sein. Die Triebe, Automatismen und Verhaltensmuster der grobstofflichen Seelenschichten können allein von der Vernunft in Schranken gehalten werden. Es gibt viele Menschen, die sich nach keinem Glauben ausrichten, und die mit der Vorstellung eines Weiterlebens nach dem physischen Tod nichts anfangen können. Unter diesen Menschen gibt es wiederum viele, die ein ethisch einwandfreies Leben führen. Hingegen ist für die Reinigung der feinstofflichen Seelen-Substanzen der Glaube an etwas Übergeordnetes notwendig. Damit kommen wir zum zweiten Übungsfeld.

(2) Die fünf Säulen des Islams bestehen aus dem Glaubensbekenntnis, dem Ritualgebet, der Unterstützung von Bedürftigen, dem Fasten und der Pilgerfahrt. Da geht es um die feinstofflichen Schichten der Seele, welche dem Menschen Inspiration, Vorstellungskraft, Zielstrebigkeit und Lebenssinn ermöglichen. Nun, in ihrem Überlebensdrang nutzt die Seele diese Fähigkeiten vorerst für Status und Bekanntheit. So bleibt wenigstens die Erinnerung an sie, wenn sie eines Tages vom Tode ergriffen wird. Doch besser ist ein Bewusstsein, das sich als Teil von etwas Grösserem sieht. Besser ist es, als Dienende Gottes zu wirken, statt sich selbst verwirklichen zu wollen.

Die Pflichtgebete fünf Mal am Tag sind wunderbare Stop-Übungen, wo wir für einige Minuten dem Alltag den Rücken kehren, um uns ganz Gott, dem Übergeordneten zuzuwenden – vergleichbar mit dem Stundengebet hier in diesem Kloster. Das Fasten im Monat Ramadan und das Bezahlen der Armensteuer sind Übungen, um von der Überbewertung unseres Selbst wegzukommen. Dann ist noch die Pilgerfahrt zur Kaaba in Mekka sowie zur Grabes-Moschee des Propheten in Medina. Dies ist die eigentliche rituelle Übung fürs Sterben, bevor der leibliche Tod uns überrascht. Von den Sufis kennen wir den Spruch „Stirb, bevor du stirbst“, und der Dichter und Mystiker Johannes Scheffler, der sich als Katholik Angelius Silesius nannte, dichtete:

 

Wer nicht stirbt

bevor er stirbt,

verdirbt

wenn er stirbt.

 

(3) Die rituelle Erinnerung an Gott (dhikr) ist verwandt mit dem Herzens- oder Rosenkranz-Gebet der Christen. „So gedenkt Meiner, damit Ich euer gedenke“ steht im Koran (2:152). Dhikr Allah, was Gotteserinnerung bedeutet, wird in allen Sufi-Strömungen geübt. Dabei werden Gottesnamen oder koranische Kurztexte repetiert, allein oder in der Gemeinschaft. Als Ergänzung zur Anrufung des transzendenten Gottes im Ritualgebet ist der Dhikr ein Üben des Loslassens von sich selbst und Fallenlassens in die Hände Gottes (fana fi Allah).

Das Üben des Dhikr bahnt einen Weg durch die erwähnten Seelenschichten ins Herz (qalb), dem innersten Kern des Menschen. Dies wird im ersten Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses beschrieben: La ilaha il-Allah – „Es gibt keinen Gott ausser dem Einen Gott“, oder in den Worten Meister Eckharts: „Lass weg, was nicht Gott ist, und dann bleibt nur noch Gott übrig“. Es ist der Weg der Negation, des Loslassens von sich selbst und allem Begehren nach Kontrolle und Grösse.

Ein bekanntes Gotteswort (hadith qutsi) lautet:

Weder Mein Himmel (Thron) noch Meine Erde (Schemel) umfassen Mich, doch Mich umfasst das Herz Meines treuen Dieners.

Das Herz ist der Ort, wo wir uns Gott  nähern können, ohne in der Gesellschaft aufzufallen, ohne Drama. Ein beliebtes Gedicht, das unserem Ordensgründer Celaleddin Rumi zugeordnet wird, aber wahrscheinlich von einem anderen Sufi-Dichter stammt, lautet:

Das Kreuz und die Christen, von einem Ende zum anderen, habe ich durchsucht;
Er war nicht dort.

Ich ging zum Hindu-Tempel, zur alten Pagode;
an keiner der beiden Stellen war ein Zeichen von Ihm zu sehen.

Ich wandte mich zum Hochland von Herat, und nach Kandahar;
ich suchte; Er war weder auf den Höhen noch in der Ebene.

Entschlossen ging ich auf den Gipfel des berühmten Berges Kaf;
dort fand sich nur das Nest des legendären Vogels Anqa.

Ich ging zur Kaaba von Mekka; Er war nicht dort.

Ich fragte Avicenna den Philosophen nach Ihm; Er überstieg das Denkvermögen Avicennas.

Ich schaute in mein eigenes Herz. Dort, an Seinem Platz, sah ich Ihn;
Er war an keinem anderen Ort.

 

Der Weg zum Herzen kann nur durch das Aufgeben der Ich-Bezogenheit begangen werden. Rumi drückt das sehr klar aus, diesmal in einem eindeutig von ihm stammenden Vers:

Es gibt für niemanden, der noch nicht entworden ist, Zutritt in den Audienzsaal Seiner Majestät.
Was ist das Mittel, um zum Himmel aufzusteigen? Nichtsein!
Nichtsein ist der Glaube und die Religion der Liebenden.
(Mesnevi 6:232 f)

 

Das Aufgeben der Ich-Bezogenheit ist ein langwieriger Prozess. Wir können nicht an einem Sufi-Kurs während einigen Tagen Dhikr üben und meinen, die gemachte Erfahrung hätte uns innerlich auch verändert. Das Üben des Dhikr ist nur ein einzelnes Element in einem ganzheitlichen Glaubens-Gefäss und Wandlungs-Prozess. Die gesprochenen oder gemurmelten Formeln wirken nur dann, wenn ein Glaube oder wenigstens eine Sympathie für die islamische Offenbarung da ist.

 

(4) Die Stärkung des Wissens (‚ilm) macht aus Sicht der Sufis dann Sinn, wenn die erworbenen Kenntnisse zum Wohle anderer Menschen und der Gesellschaft eingesetzt werden. Was eben beschrieben wurde, nämlich das Üben des Respektes und guten Benehmens sowie die fünf Säulen des Islams und das Gotteserinnern sorgen dafür, dass das Gelernte nicht dem eigenen Vorteil und der Überheblichkeit dient. Mit diesen Voraussetzungen wird Bücherwissen zu einer Unterstützung.

 

Eine gängige Praxis aller Sufi-Kreise ist das Sohbet. Es ist die Zeit, wo der Scheich ein Lehrgespräch führt. Die dabei einzuhaltende Regel fordert, dass alle Teilnehmenden sich ganz in den Zustand der Zuhörenden versetzen und aufkommende eigene Meinungen in den Hintergrund verlegen. Niemand ist befugt, in dieser Zeit den Scheich mit eigenen Ideen, Gedanken und Meinungen zu unterbrechen. Dieses rituelle Arrangement erzeugt im Raum das bereits erwähnte Vakuum, welches die zwei Welten spürbar zusammenführt und so das Heilige sichtbar macht. Und erst in dieser Atmosphäre entsteht beim Scheich jene Inspiration, welche die anwesenden Zuhörer direkt betrifft.

 

 

(5) Das Drehritual (sema) wurde in unserem Orden über die Jahrhunderte zur Form entwickelt, wie wir es heute als „Tanzende Derwische“ kennen. Seit dieser Ritus im Westen bekannt wurde und eine gewisse Faszination auslöste, haben auch andere Sufi-Orden diese Praxis angenommen. Es geht vorerst darum, den um seine eigene Achse drehenden Derwisch in einen bleibenden Zustand der meditierenden Zentriertheit zu versetzen. Zugleich soll erreicht werden, dass der Ritus die anwesenden Besucher mit einbezieht und ihnen ein Erleben des Heiligen offeriert. In der Tat sind die Rückmeldungen, die wir von den Besuchenden erhalten, sehr berührend.

 

Nach diesem Überblick an Erfahrungsmöglichkeiten möchte ich mein Referat abrunden mit der Feststellung, dass ein Weg der Mystik kein einfacheres Leben garantiert. Sicher: auf einem solchen Weg lernen wir, die schicksalsbedingten Umstände anzunehmen, Niedergeschlagenheit und Klagen hinter uns zu lassen und jede Opferhaltung zu vermeiden. Doch auch dann, wenn wir dies zu einem guten Teil hinter uns gelassen haben, sind wir immer noch auf dem Weg. Neue Herausforderungen begegnen uns; es geschieht eine Art Verschiebung der Versuchungen. Der Teufel will uns nicht entwischen lassen und wird uns mit subtilen Versuchungen weiter belasten. Als mir die Würde eines Scheich gegeben wurde, sagte mein damaliger Lehrer zu mir: „Jetzt hast Du ein weisses Hemd. Pass auf, denn ab jetzt sieht man den kleinsten Flecken! Wenn Du einen Flecken erwischst, putze ihn sofort und lasse solches nicht stehen!“  Auch Würdenträger und fortgeschrittene Mystiker sind den Versuchungen ausgesetzt, zum Beispiel im Gefallen an der Funktion und dem damit verbundenen Genuss, auf andere Menschen Einfluss nehmen zu können. Jakob Böhme schrieb:

 

Ich bin wie du und habe kein grösser Licht in meinem äusserlichen Wesen als du. Dazu bin ich sowohl ein sündiger und sterblicher Mensch als du, und muss mich alle Tage und Stunden mit dem Teufel kratzen und schlagen. … Unser Leben ist wie ein steter Krieg mit dem Teufel. … Wenn er aber überwunden ist, so gehet die Himmelspforte in meinem Geiste auf. Dann siehet der Geist das göttliche und himmlische Wesen, nicht ausser dem Leibe, sondern im Quellbrunnen des Herzens gehet der Blitz auf in die Sinnlichkeit des Hirns, darinnen spekulieret der Geist. (Morgenröte im Aufgang 11:67 f)

 

 

 

Verehrte Damen und Herren, in der Bibel und auch im Koran können wir nachlesen, dass selbst Propheten diversen Versuchungen ausgesetzt waren. Die meisten Muslime lernen jedoch im Religionsunterricht, dass der Prophet und seine Kalifen sowie einige frühe Prophetengefährten und Theologen perfekte bis vollkommene Menschen (insan-i kamil) waren, die nicht in Frage gestellt werden und folglich auch für den Alltag als Vorbild dienen. Eine solch enge Sicht des Islams führte und führt noch heute zu individuell gefärbten Fantasien über das Vollkommene. Die Folge sind Streit, Hass und Krieg unter Muslimen. Der politische Islam ist eines der grössten Probleme in der heutigen Welt.

 

 

Ich komme zurück auf das Thema dieses Kongresses. Die Fähigkeit zur Öffnung im Gegensatz zum  Drang nach Perfektion ist meines Erachtens das Grundthema in den Polaritäten zwischen Spiritualität und Religion, Mystik und Dogmatik sowie fruchtbare Praxis und Selbstbespiegelung. Der Islam fordert ein gottgefälliges Leben bei gleichzeitigem sich Öffnen für Gott. Doch oft wird auch im Islam nur das Eine oder das Andere gelebt. Ob orthodox, liberal oder mystisch: es darf kein „entweder oder“ sein.

 

 

Herzlichen Dank fürs Zuhören!

 

 

Zitate aus dem Koran gemäss der Übersetzung von Max Henning.

Zitate aus dem Mesnevi mit freundlicher Genehmigung durch die Übersetzergemeinschaft
Bernhard Meyer, Kaveh und Jilla Dalir Azar.