Das Oberhaupt aller Mevlevi

(Aus einem Beitrag von Ibrahim Gamard Efendi)

 

Der Mevlevi-Orden – eine islamische Tradition – führt die spirituellen Lehren und die Praxis von Mevlânâ Jalâluddîn Rûmî, seinen Nachfahren und seinen Anhängern seit über 700 Jahren fort. Durch die Restriktionen, denen die Sufi-Organisationen in der Türkei seit über 80 Jahren unterworfen sind, wurde die Mevlevi-Tradition deutlich geschwächt.

In der heutigen Welt, in der Informationen elektronisch leicht zugänglich sind, gibt es eine ganze Reihe von Mevlevi-Organisationen, die über Webseiten verfügen und verschiedenartig Autorität beanspruchen. Dies macht es schwierig zu erkennen, welche Organisationen legitime Autorität besitzen und welche nicht. Die Folge davon ist, dass es für die Mevlevi-Tradition schwieriger ist, sich im Westen gemäß der traditionellen spirituellen Praxis, der traditionellen Lehren und einer entsprechenden Ethik zu etablieren.

Der Zweck dieses Artikels ist es klarzustellen, dass allein der „Groß-Çelebi“ oder Maqâm-i Çelebi, ein direkter Nachfahre von Mevlânâ Jalâluddîn Rûmî, berechtigt ist zu entscheiden, wer ein rechtmäßiger und autorisierter Mevlevi-Scheich ist und wer nicht. Der jetzige Maqâm-i Çelebi ist Faruk Hemdem Çelebi Efendi aus der Türkei.

Fâruk Çelebi Efendi ist Vorsitzender der Internationalen Mevlana-Stiftung (auf Türkisch Uluslarasi Hz. Mevlânâ Vakfi), deren Sitz sich in Istanbul befindet. Alle rechtmäßigen Mevlevi-Scheichs müssen über diese zentrale Organisation an ihn angeschlossen sein. Leider haben sich einige Leiter von Mevlevi-Gruppen dazu entschlossen, die Amtsgewalt des Groß-Çelebi zu ignorieren – oder, wie in manchen Fällen, ihn zwar verbal zu bestätigen, ohne aber wirklich mit ihm zusammenzuarbeiten und ohne ihm echte Gefolgschaft zu leisten.

 

DER MAQAM-I-ÇELEBI, DAS DURCH ERBFOLGE BESTIMMTE OBERHAUPT ALLER MEVLEVIS

Seit über 700 Jahren ist die höchste Amtsperson für alle Mevlevi-Niederlassungen ein direkter Nachfahre von Mevlânâ Jalâluddîn Rûmî, der Hazret-i-Çelebi(„der hochverehrte Çelebi“) oder Maqâm-i Çelebi(„der hohe Rang des Çelebi“) oder Çelebi Efendigenannt wird. Er ist auch Nachfahre des Enkels von Mevlânâ, Ulu `Ârif Çelebi. Diese Autorität blieb über Jahrhunderte und Entfernungen hinweg erhalten – nebst der Türkei auch für Mevlevi-Zentren in Ägypten, Bosnien, Griechenland oder Arabien. Das Wort Çelebiist traditionell ein türkischer Begriff für einen wohlerzogenen, gebildeten Mann von kultivierter Lebensart. Da sich der Begriff auch auf die Familie Çelebi, die direkten Nachkommen von Mevlânâ, bezieht, bedeutet er auch „Oberhaupt der Mevlevis“. Maqâm-i Çelebibedeutet wörtlich „der Rang des Çelebi.“

Gemäß der Tradition erbt der Maqâm-i Çelebi den Titel „Scheich von Konya“ (früher das Oberhaupt der Mevlevi-Hauptniederlassung oder der Mevlevihane in Konya, wo Mevlânâ Rûmî begraben ist). Jeder Nachfolger eines Maqâm-i Çelebi wurde als Mevlevi-Derwisch ausgebildet, bevor er das Amt eines Scheichs von Konya antrat. Die Nachfolge ist patrilinear, also von Vater zu Sohn: Dem ältesten Sohn des vorherigen Maqâm-i Çelebi wird Vorrang gegeben, dann folgt ein weiterer Sohn (falls der Älteste nicht willens oder nicht fähig sein sollte, seine Pflichten zu erfüllen, oder falls er nicht ausreichend unterstützt wird, um gewählt zu werden), danach folgt ein Sohn des Çelebi, der dem vorherigen Maqâm-i Çelebi voranging, danach ein Bruder des vorherigen Maqâm-i Çelebi, dann ein anderer Enkel des Çelebi, der dem vorherigen Maqâm-i Çelebi voranging usw. Im späten Osmanischen Reich war der Mevlevi-Orden stark mit der Regierung verstrickt, so dass der Sultan des Reiches in die Zustimmung für die Nachfolge mit einbezogen war. Heutzutage wird der Maqâm-i Çelebi von Mitgliedern der Çelebi-Familie gewählt.

Es ist nicht nötig, dass der Maqâm-i Çelebi mit großer spiritueller Meisterschaft oder mit außergewöhnlicher spiritueller Weisheit begabt ist. Dies ist jedoch erforderlich für „die Nummer Zwei“ der Mevlevis, dem spirituellen Oberhaupt der Mevlevi, dem obersten geistigen Leiter aller Mevlevi-Scheichs und Anhänger. Dieser so genannte Sar-i-Tarîq („Sertarik“ in modernem Türkisch) wird durch den Maqâm-i Çelebi ernannt. Dem Maqâm-i Çelebi kommt indes in erster Line eine administrative Amtsgewalt zu, um wichtige Entscheidungen zu treffen, die das Wohlergehen der Organisation und der Tradition der Mevlevi sichern und deren Wachstum fördern sollen.

Der derzeitige Maqâm-i Çelebi ist Faruk Hemdem Çelebi Efendi (siehe die „Çelebi Family Website“ unter www.mevlana.net). Er ist der Urenkel von Mevlânâ Jalâluddîn Rûmî in der 22. Generation und der 33. Maqâm-i Çelebi. Sein Urgroßvater, Abdul Halim Çelebi, war der letzte Maqâm-i Çelebi des Mevlevi-Ordens während des Osmanischen Reichs bis zu dessen Auflösung nach dem 1. Weltkrieg und dem Gesetz des Jahres 1925, das alle Sufi-Organisationen für illegal erklärte (ein Gesetz, das bis zum heutigen Tag Gültigkeit hat). Sein Großvater, der 31. Maqâm-i Çelebi, war Mehmet Bakir Çelebi (1944 verstorben). Sein Vater, der 32. Maqâm-i Çelebi, war Celaleddin Bakir Çelebi; er wurde in Aleppo/Syrien geboren und starb 1996 in Istanbul. Faruk Hemdem Çelebi Efendi wurde 1950 in Aleppo/Syrien geboren.

Gemäss der Mevlevi-Tradition darf niemand den Titel eines „Mevlevi-Scheichs“ beanspruchen – oder in anderen Worten den „Turban eines Scheichs (dastâr) tragen“, wenn er hierzu nicht durch den gegenwärtigen Maqâm-i Çelebi ermächtigt wird. Ein neuer Scheich erhält eine schriftliche, unterschriebene Bestätigung (ijazat) für das Amt und die Verantwortlichkeit als Scheich. Die Akzeptanz ist mit einem Versprechen (bay`at, bey’a) verbunden, mit dem Maqâm-i Çelebi loyal verbunden zu sein.

Jemand, der von einem Mevlevi-Scheich als dessen Vertreter oder gar Nachfolger (Kalif, khalîfa, halifa) ausgewählt wurde, wird nach dem Tod seines Scheichs nicht automatisch selbst ein Mevlevi-Scheich. Er benötigt dazu die Ermächtigung des Maqâm-i Çelebi. Der Titel eines Kalifen bezeichnet den Empfang einer persönlichen geistlichen Übertragung durch den Scheich, während der Titel eines Mevlevi-Scheichs die Ausübung einer leitenden Funktion innerhalb des Mevlevi-Ordens bezeichnet. Die von unabhängigen Gruppierungen benützen Titel wie „Scheich“ oder „Scheicha“ oder „Postneshin“ haben in der Mevlevi-Tradition keine Legitimation.

Der Rang als Scheich kann auch aberkannt werden. Dies kann geschehen aufgrund inakzeptabler Verstöße gegen die Mevlevi-Tradition, aufgrund unerlaubter Neuerungen oder durch ernsthafte ethische Verstöße. Eine solche Person kann dann aufgefordert werden den Mevlevi-Turban (sikkemit dastâr) an den Maqâm-i Çelebi zurückzugeben.

Faruk Hemdem Çelebi Efendi hat nicht nur neue Mevlevi-Scheichs bestätigt, sondern sich auch intensiv darum bemüht, bei der türkischen Regierung Verständnis und Unterstützung für das zu erlangen, was von der Mevlevi-Tradition in der Türkei übrig geblieben ist. Er fuhr oft in die Hauptstadt Ankara, um sich mit den Funktionären des Kultusministeriums zu treffen, wobei seine Schwester, Esin Çelebi Bayru viele dieser Termine in seiner Vertretung wahrnahm. Als Vorsitzender der Internationalen Mevlana-Stiftung hat er eine Anzahl bedeutende Erfolge erzielt:

 

  • Den Aufbau der Internationalen Mevlana-Stiftung in Istanbul nach den Richtlinien, die ihm sein Vater vor seinem Tod 1996 vorgegeben hat.
  • Den akzeptierten Antrag, dass das Sema-Drehzeremoniell geschützt und bewahrt würde, im gleichen Maße wie die dafür bestimmten Säle (semahane), sowie die als sakral geltenden Küchen und Derwischzellen der Derwischklöster und die Mevlevihanes, in denen in mündlicher Überlieferung der Semâ und die Musik für die Aufführung des Zeremoniells eingeübt wurden.
  • Den offiziellen Antrag von der Internationalen Mevlana-Stiftung, dass das Jahr 2007 von der UNESCO offiziell zum „Rumi-Jahr“ erklärt wird (im Nachhinein angenommen).
  • Nachdem das Rumi-Jahr ausgerufen worden war, erklärten sich die drei beteiligten Länder Türkei, Iran und Afghanistan bereit, internationale Konferenzen über Mevlana abzuhalten. Dies geschah vor allem in Istanbul und Konya. Die UNESCO hat den Semâ (das als Semâ Mevlevi Ayin-i Sherifoder Semâ Mukabele-i Sherifbekannte sakrale Mevlevi Ritual) zum „Meisterwerk des mündlich überlieferten und unantastbaren Erbes der Menschheit“ anerkannt. Somit ist der Semâ als weltweit zu schützendes Kulturerbe anerkannt und eingetragen.
  • Çelebi Efendi war als Berater für den Dokumentarfilm „Mevlana Jelal-u-din Rumi“ tätig, der in fünf Ländern (darunter die Schweiz und Deutschland) gedreht wurde. Regie führte Frau Tulay Akça, und der Film hatte in der Hauptniederlassung der UNESCO in Paris im April 2007 Premiere als Teil der Gedenkfeiern anlässlich des „Rumi-Jahres“.
  • Die Restaurierung des größten Mevlevi-Zentrums in Istanbul, der Yenikapi Mevlevihanesi, wofür passendes Baumaterial und sogar Verputzfarben nach den ursprünglichen Bauzeichnungen ausgewählt wurden. Ohne die unermüdlichen Bemühungen von Çelebi Efendi und seiner Schwester Esin Bayru Çelebi wären diese Arbeiten nicht durchgeführt worden. Die International Mevlevi-Stiftung schlug vor, daraus ein „lebendiges Museum“ zu machen, wo Mevlevi-Musiker, drehende Derwische (Semazen), Kunsthandwerker und Wissenschaftler entsprechend ausgebildet werden sollen.

 

 

UNABHÄNGIGE MEVLEVI-BEWEGUNGEN IM WESTEN

Unter einer größeren Anzahl von Bemühungen, die Mevlevi-Tarîqat im Westen zu verbreiten, sei hier ein bekannter Fall erwähnt, der zur Schulung von „Westlern“ in das Semâ der Mevlevis geführt haben.

Als der 31. Maqâm-i Çelebi (Abdul Halim Çelebi) 1944 starb, war sein Sohn und Nachfolger Celaleddin Bakir Çelebi 18 Jahre alt. Obgleich dieser das Recht geerbt hatte, „Scheich von Konya“ zu sein, fühlte er sich doch zu jung und unwürdig für die damit verbundene Verantwortung, und außerdem lebte er im Ausland, nämlich im syrischen Aleppo. Eine Anzahl von Derwischen wurde in Betracht gezogen, und schließlich wurde Süleyman Hayati Loras Dede zum Stellvertreter des Maqâm-i Çelebi mit dem Titel und der Amtsgewalt eines „Scheichs von Konya“ gewählt. Viele Jahre lang lebte Süleyman Dede in der Mevlevihane in Konya, wo er im Rahmen eines von der Regierung unterstützten Programms Essen kochte und kostenlos an Arme verteilte, denn es herrschten schwierige Zeiten in der Türkei.

Süleyman Dede kam 1976 zum ersten Mal nach Amerika. Im Bemühen, den Mevlevi-Weg zu verbreiten, initiierte er eine Anzahl „Westler“ als Mevlevi-Scheichs. Dies waren Menschen, deren spirituelle Entwicklung ihn beeindruckte. Sie waren bis auf wenige Ausnahmen keine Muslime, doch Süleyman Dede hoffte zweifellos, dass sie zum Islam übertreten und ihr Leben der Mevlevi-Tradition widmen würden. Als Scheich von Konya verfügte er über die Amtsgewalt, diese Titel zu verleihen (er hätte aber die Zustimmung von Celaleddin Çelebi Efendi sowie der Mevlevi-Scheichs, die den Maqâm-i Çelebi berieten, einholen sollen). Seine Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht. Manche neuen Scheichs fühlten sich der esoterisch-okkulten Mystik (wie den Lehren Gurdjieffs und anderen) wesentlich mehr verbunden und hatten wenig Interesse an einer Form von religiöser Mystik, wie sie der Mevlevi-Pfad darstellt. In solchen Fällen hielt es Dede für notwendig, die Übertragung des Titels Mevlevi-Scheich wieder rückgängig zu machen. Mit den meisten Inhabern des Titels gab es keine Schwierigkeiten, da diese nicht öffentlich als Mevlevi-Scheichs auftraten. Als Süleyman Dede 1985 starb, gingen, wie ursprünglich vereinbart, sein geistliches Amt und seine Kompetenzen wieder an die Familie Çelebi zurück.