Das Ritual des Semâ (bedeutet das Hören auf den Klang der anderen Welt) fand seinen Ursprung in einer Inspiration von Hz. Mevlana Celaleddin Rumi, erhielt aber seine Form erst nach dem Tode Mevlânâs (17. Dez. 1273), beeinflusst durch kulturelle und soziale Gewohnheiten der heutigen Türkei. Das Ritual wird auch Mukabele genannt, was „Begegnung von Angesicht zu Angesicht“ bedeutet.
Es ist wissenschaftlich anerkannt, dass die grundlegende Voraussetzung für unsere Existenz eine Drehbewegung ist. Es gibt kein Wesen oder Objekt, das sich nicht dreht, denn alle Wesen bestehen aus Atomen mit kreisenden Elektronen, Protonen und Neutronen. Alles kreist, und der Mensch lebt dank der Teilchenbewegung, dem Blutkreislauf und den Lebenszyklen mit dem Erscheinen aus der Erde und dem Wiederkehren zur Erde.
Nun, alle diese Bewegungen sind natürlich und unbewusst. Doch der Mensch besitzt Bewusstsein und Intelligenz, was ihn von anderen Lebewesen unterscheidet. Somit nimmt der Drehende Derwisch oder Semazen absichtlich und bewusst an den Bewegungen teil, denen alle Lebewesen unterworfen sind.
Entgegen der üblichen Meinung ist es nicht das Ziel des Semazen, in eine Ekstase zu verfallen. Vielmehr dreht er in Harmonie mit der Natur, mit den kleinsten Zellen und den Sternen am Himmelsgewölbe, und ist damit Zeuge für die Majestät und Existenz des Schöpfers; er denkt an IHN, gibt IHM allen Dank und betet zu IHM. In diesem Tun bestätigt der Semazen das Wort des Korans: “Was im Himmel und auf Erden ist, preist den Einen Gott” (64:1).
Eine wichtige Eigenart dieses mehrere hundert Jahre alten Rituals ist das Zusammenführen der drei fundamentalen Komponenten der menschlichen Natur, nämlich dem Verstand (durch Wissen und Gedanken), dem Herzen (durch den Gefühlsausdruck, Poesie und Musik) und dem Körper (durch das Anspornen des Lebens und dem Drehen). Diese drei Elemente werden zusammengeschweisst – sowohl theoretisch wie praktisch.
Die Zeremonie des Semâ ist voller Symbolik über den spirituellen Weg des Menschen. Im Drehen der Wahrheit entgegen wächst er durch Liebe, übersteigt (transzendiert) das Ego, trifft auf die Wahrheit und erlangt Vollkommenheit (al-Kamil). Dann kehrt er zurück von seiner spirituellen Wanderung, befähigt zu lieben und dieser Schöpfung mit allen Geschöpfen zu dienen, ohne Unterscheidung von Glaube, Klasse oder Rasse.